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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe von Seltmann
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Rückkehr nicht zu lang wird, will ich Ihnen auf diese Weise weiter erzählen, wie es mir in Merklinghausen ergangen ist …«
    Lea schnäuzte sich die Nase. »Ist er nicht ein lieber Mensch? Man muss ihn einfach gern haben.«
    Ein freundlicher junger Kellner brachte uns zwei Cola und zwei Pizzen. Lea betrachtete ihre Pizza, schimpfte auf den Jungen ein und schickte ihn mit beiden Pizzen zurück. »Was schaust du? Ich habe ihm gesagt, er soll uns nicht wie Touristen behandeln und eine aufgewärmte Pampe servieren, sondern zwei frische, knackige Pizzen. So wie es sich für ein gut geführtes Restaurant gebührt. Jetzt lies weiter!« Ich trank erst einmal einen Schluck Cola und räusperte mich. Yassir hatte Recht. Man müsste die Frauen viel öfter in ihre Schranken verweisen.
    »Hör auf zu denken und lies!«, drängelte Lea. »Die große Politik ging an Merklinghausen zunächst vorüber. Der Bürgermeister war ein gutmütiger alter Herr, der sich irgendwie mit den Nazis arrangiert hatte, um im Amt zu bleiben. Auch die Dörfler scherten sich wenig um die politischen Verhältnisse. Sie wählten zwar bis auf wenige Ausnahmen die NSDAP, aber überzeugte Nazis waren die wenigsten. Sie waren froh über den wirtschaftlichen Aufschwung und genossen ihren wachsenden Wohlstand. Viele, auch Bernhard, bekamen Arbeit beim Fabrikanten Frick. Der hatte die Nase im Wind und rechtzeitig seine Produktion auf Kriegsmaterial umgestellt.
    Die Rosenthals und die Karlebachs hatten sich aneinander gewöhnt. Uns ging es gut, auch wenn die Rosenthals ihren Viehhandel aufgaben. Viele Bauern aus der Umgebung zögerten mit der Zahlung ihrer Schulden beim Jud, wie es hieß, weil sie auf eine gesetzliche Niederschlagung hofften. Die Behörden drückten die Preise und eines Tages wurde Onkel Heinrich Rosenthal in Schutzhaft genommen. Als er nach zwei Wochen entlassen wurde, sagte er, es sei schon längst überfällig, einmal etwas anderes zu machen. Als Frick ihn fragte, ob er in der Finanzbuchhaltung einer seiner neuen Firmen arbeiten wollte, sagte er sofort zu und gab den Viehhandel auf. Der alte Philipp Rosenthal freute sich auf seinen Ruhestand. Mein Vater wurde bei Frick sogar Abteilungsleiter.
    Wenn wir in der Stadt gemeinsam das Schabbatmahl einnahmen, pflegte sich Großvater Karlebach zufrieden zurückzulehnen und zu betonen: Habe ich es nicht gesagt? Auf uns deutsche Juden kann man nicht verzichten.« Der Chef des Restaurants servierte uns mit einer wortreichen Entschuldigung zwei frische, knackige Pizzen. »Siehst du«, sagte Lea triumphierend, »man darf sich nicht alles gefallen lassen!« Mir blieb nichts übrig, als ihr Recht zu geben. Noch während des Essens musste ich weiterlesen.
    »Die Alarmsignale wollte Großvater nicht wahrnehmen. Er hat vor ihnen die Augen verschlossen. Als im Mai 1935 das Wehrgesetz erlassen wurde, dem zufolge nur Männer arischer Abstammung Wehrdienst leisten durften, unterschrieb er zwar eine Protestnote seines Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, aber er war fest davon überzeugt, dass das Gesetz bald rückgängig gemacht würde. Die Nürnberger Rassegesetze kommentierte er mit den Worten: Jetzt wissen wir eben, wo wir dran sind. Wenn Gerüchte auftauchten, dass Juden verhaftet, ihre Geschäfte geschlossen oder sie selbst gar in den Selbstmord getrieben wurden, tat er das mit einer Handbewegung ab. Weibergeschwätz, schimpfte er.
    Im Frühjahr 1936 wurde unser Leben unruhiger. Aber nicht, weil sich die Nazis neue Schikanen ausgedacht hatten. Ehrlichmann, der irgendwie mit uns allen verwandt war, konzertierte mit seinem amerikanischen Orchester. Seine Auftritte waren in ganz Deutschland umjubelt. Auch bei uns waren die Konzerte ausverkauft. Ehrlichmann, der Sologeiger, war ein Star. Nach der Tournee ließ er sich in der Stadt nieder und nahm sich bei den Grünsteins ein Zimmer. Er hatte nur zwei Dinge im Kopf: Frauen und Musik. Manchmal war ihm das Eine, manchmal das andere wichtiger.«
    Lea grinste über ihr ganzes Gesicht.
    »Ehrlichmann war ein Charmeur, ein Gigolo. Er war groß, blond und blauäugig, wie ein arischer Held. Dass es schwer bestraft wurde, sich mit Arierinnen einzulassen, kümmerte ihn nicht. Er hatte sogar ein Verhältnis mit der jungen Frau des Gauleiters und bemühte sich nicht, es vor uns zu verbergen. Wir Kinder himmelten ihn an, denn er kannte wunderbare Geschichten und erzählte von seinen Abenteuern in New York. Später am Abend, wenn wir Jüngeren im Bett waren, prahlte er vor

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