Karlebachs Vermaechtnis
die heiße Sonne, hat sie gemeint. Und hat sie nicht Recht behalten?«
Karlebach krempelte seine Hemdsärmel hoch und lachte. »Ich werde nie einen so dunklen Teint bekommen wie Lea.« Ich sah wieder die tätowierte Nummer auf seinem Unterarm.
»Waren Sie denn überhaupt Mitglied in einer jüdischen Jugendgruppe?«, fragte Lea.
»Nein. Wir waren die einzigen jüdischen Familien in einem Umkreis von siebzig, achtzig Kilometern. Da hatten wir keine Möglichkeit, in eine Jugendgruppe einzutreten. Nicht einmal an den Wettkämpfen des Makkabikreises oder des Schildes, obwohl das der Sportbund der jüdischen Frontsoldaten war, haben wir teilgenommen.« Eine ungeduldige Stimme aus der Küche rief bereits zum zweiten Mal nach Lea.
»Schade«, seufzte sie und schob ihren Stuhl zurück. »Sie müssen sich einmal in Nahariya mit meiner Großmutter treffen. Sie hat eine Hachschara besucht und ist mit ihren siebzig Jahren noch heute überzeugte Zionistin.«
»Ich weiß«, lächelte Karlebach, »ich habe erst vergangene Woche mit ihr geredet.«
Lea presste ihren Bestellblock an sich. »Sie kennen meine Oma?«
»Leider noch viel zu wenig. Aber sie ist eine hervorragende Tänzerin. Walzer und Polka!« Karlebach summte den Anfang des Donauwalzers. »Sie kommt demnächst nach Jerusalem.«
Lea ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Die drohende Stimme, die nach ihr verlangte, ignorierte sie mit einer unwirschen Handbewegung. »Meine Oma?« Sie erhob sich zögernd und ging kopfschüttelnd zur Küche. »Haben Sie sich verliebt, Herr Karlebach?«, wagte ich zu fragen.
Er schwenkte sein Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck. »In unserem Alter spricht man nicht mehr von Verliebtsein. Da heißt es: Man empfindet Sympathie füreinander.« Karlebach füllte unsere Gläser und sagte, es sei Zeit, zum eigentlichen Thema zurückkehren. »Sie wollen sicher hören, wie es mir in Merklinghausen ergangen ist? Über Jahre hinweg recht gut. In der Schule hatten wir Judenkinder anfangs wenig Schwierigkeiten. Wir durften zwar nach einer Anordnung des Direktors nicht mehr neben einem Arier sitzen und mussten in der letzten Reihe, der Judenbank, Platz nehmen, aber das machte mir und den drei Rosenthals nicht viel aus. Wir konnten dort viel ungestörter unseren Unsinn treiben.
Sicher hörten wir, dass es hoch stehende und niedere Rassen gebe, dass die Germanen dazu bestimmt seien, die Welt zu regieren und dass wir Juden Untermenschen seien. Und der Deutschlehrer reagierte auf jeden Fehler von uns mit der Bemerkung, dass Denken wohl nicht die Stärke der semitischen Rasse sei. Spätestens auf dem Heimweg von der Schule relativierten wir alle Rassentheorien, denn wir vier hielten zusammen wie Pech und Schwefel und gingen keiner Rauferei aus dem Weg.
Ein Ereignis hat uns über Vieles hinweggeholfen …« Karlebach schmunzelte. »Eines Tages wurden alle Schüler zusammengerufen, weil sich ein wichtiger Herr angekündigt hatte. Es war ein Beauftragter des neu geschaffenen Rasseamtes, der uns einen rassekundlichen Vortrag halten sollte. Er holte ein Mädchen nach vorn, um an ihr die reine unvermischte germanische Rasse zu demonstrieren. Sie war gerade eingeschult worden.
Seht den schmalen Schädel, rief er begeistert aus, seht die hohe Stirn, das blonde Haar, die blauen Augen!« Karlebach war von seinem Stuhl aufgesprungen. »Dass einige Kinder kicherten und der Direktor verzweifelt versuchte, ihm ein Zeichen zu geben, nahm er in seinem Eifer nicht wahr. Seht die schlanke, gerade Gestalt! Ist sie nicht eine Pracht? schwärmte er. Dann brach das Mädchen in lautes Lachen aus und selbst einige Lehrer konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Rassebeauftragte schaute irritiert in die Runde und fragte, was los sei.«
Karlebach setzte sich wieder und schnaufte tief durch. »Das Mädchen war Jüdin!«, rief er plötzlich. »Eine gottverdammte Jüdin! Wen hatte sich der Rassebeauftragte ausgesucht? Eine Jüdin! Meine Schwester Marta!« Karlebach lachte aus vollem Hals. »Ausgerechnet meine Schwester Marta! Das müssen Sie sich mal vorstellen: Eine verfluchte und verdammte Jüdin wird zum Urbild der ganzen germanischen Rasse! Das Gesicht des Rassekundlers! Das dum me, blöde Gesicht! Ich werde es nie vergessen. Niemals. Niemals werde ich es vergessen.«
Urplötzlich erstarb sein Lachen. Im Cafe wurde es totenstill, die Gespräche verstummten. Alle Augen waren auf uns gerichtet.
»Ausgerechnet meine Schwester Marta …«, schluchzte Karlebach,
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