Karma-Attacke (German Edition)
Zwei lange Härchen ragten unten heraus, eins schwarz, eins silbern. Daneben sein linkes Auge. Gütig und wach. Die Wimpern lang wie Strohhalme. Links von Marga vier Fotos seiner Hände. Jede einzelne Linie darin deutlich sichtbar. In der Mitte der Hand war ein M zu lesen. Sie wusste natürlich, dass jeder Mensch so etwas hatte. Doch bei ihm schien es ihr besonders ausgeprägt zu sein.
Plötzlich glühte in ihr die Hoffnung, dieses M sei ein Zeichen. Der Anfangsbuchstabe des Wortes Marga.
Erst jetzt, da sie die Großaufnahme seiner Hände sah, begriff Marga, welche Kunstwerke in seinem Büro in der Klinik an der Wand hingen. Es waren gigantische Fingerabdrücke, in bunten Farben nachgezeichnet.
Der Raum übte eine seltsame Faszination auf Marga aus. Gleichzeitig war er ihr unheimlich. Warum waren diese Bilder nicht im ganzen Haus verteilt? Warum nur hier, in dieser merkwürdigen Anordnung? In der Mitte des Zimmers befand sich eine Art Liege. In jeder Ecke ein Kerzenständer. Sonst nichts. Hatten sie hier schwarze Messen gefeiert? Marga stellte sich vor, dass die kühle Verwaltungsdirektorin auf dieser Liege sexuelle Exzesse erlebt hatte, die ihr selbst noch bevorstanden, denn jetzt würde sie an ihre Stelle treten.
Sie rannte hinunter in den Keller und versuchte, den Rest so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Zum Glück waren die Akten und Tonbänder bereits in Kisten verpackt. Die erste davon schleppte Marga hoch, um sie in ihr Auto zu tragen. Da klingelte es an der Tür.
Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben. Selbst ihr Herzschlag setzte aus. Dann pochte ihr Herz im ganzen Körper gleichzeitig los. Ihr wurde schwindlig. Sie bekam Ohrensausen. Sie wollte die Kiste langsam abstellen, doch es war, als sei der Pappkarton selbst erschrocken. Der Pappboden öffnete sich und Tonbandkassetten prasselten auf den Boden.
In einem einzigen klaren Augenblick erkannte sie die monströse Dummheit ihres Handelns. Sie warf ihr Leben weg, um dem Ruf eines Kerls zu folgen, der nie wirklich etwas für sie getan hatte. Er verfügte einfach über sie. Sie war verliebt wie ein Teenager und fühlte sich als Auserwählte, nur weil er sie für Handlangerdienste herumschickte und nicht irgendeine andere. Schamesröte schoss ihr ins Gesicht, und Angst überfiel sie, der Ausflug ins romantische Abenteuer könnte hier bereits beendet sein.
Vor der Tür vermutete sie die Polizei. Man würde sie festnehmen. Nach einem langen, ehrlichen, arbeitsreichen Leben sah sie sich nun wegen Einbruchs vor Gericht stehen.
Sie konnte sich nicht einfach tot stellen. Der Lärm, den die Kassetten verursacht hatten, war zu groß. Plötzlich war sie wieder die resolute handlungsfähige Frau, die den Alltag mit kleinen Schritten bewältigte. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde die Tür öffnen und sagen, dass ihr Chef, Professor Dr.Ullrich, dem niemand zu widersprechen wagte, ihr den Auftrag gegeben hatte, Material von hier nach da zu schaffen. Na und? Welche Wünsche und Träume sie damit verbunden hatte, das ging doch niemanden etwas an.
Marga atmete einmal tief durch, dann öffnete sie. Sie war sofort erleichtert. Die Frau, die vor ihr stand, kannte sie nicht. Vermutlich eine Freundin von Sabrina Schumann. Für Marga sah sie aus wie eine Studierte, auf jeden Fall nicht wie eine, die ihren Lebensunterhalt mit Flurputzen verdiente.
Die Frau warf ihre Haare zurück. «Frau Dr.Schumann?», fragte sie.
Instinktiv nickte Marga.
«Mein Name ist Brigitte Zablonski. Ich muss dringend Professor Ullrich sprechen. Ich hatte gehofft, ihn vielleicht hier zu …»
Es fühlte sich für Marga an, als würde ihre Wirbelsäule erhitzt. Vom Steißbein her jagte eine feurige Flamme den Rücken hinauf in ihren Nacken.
«Kann ich dem Professor etwas ausrichten?»
«Wir sind Kollegen. Ich … Ähm … Darf ich einen Moment hereinkommen?»
Marga nickte und gab die Tür frei.
Dem Pappkarton und den Kassetten auf dem Boden schenkte Frau Zablonski keine Beachtung. Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Ihr Blick schweifte einmal kurz durch die Wohnung, doch sie schaute sich nichts näher an.
«Professor Ullrich und ich, wir sind Arbeitskollegen. Ich bin auch Therapeutin.»
So siehst du auch aus, dachte Marga. Kannst die Putzfrau nicht von der Chefin unterscheiden. Aber Therapeutin.
«Man hat mir gesagt, dass … Also, ich habe in Erfahrung gebracht …»
Marga fühlte sich plötzlich überlegen. Diese Frau wollte etwas, hatte
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