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Karma-Attacke (German Edition)

Karma-Attacke (German Edition)

Titel: Karma-Attacke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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hin. Sie sah wie durch Nebelschwaden, und so bewegte sie sich auch. Nicht grazil wie andere Mädchen in ihrem Alter, sondern stampfend und unsicher. Die Kassiererin fragte sich, ob dieses Mädchen vielleicht geistig behindert war. Vivien wartete nicht auf das Wechselgeld. Sie ging weiter und gab den Fünfzigeuroschein ab wie eine Art Eintrittskarte. Die Kassiererin legte das Geld kopfschüttelnd neben die Kasse. Gleich wird ihr Betreuer kommen, dachte sie, dann gebe ich ihm die Restsumme.
    Vivien setzte sich an den nächsten freien Platz und begann mit bloßen Händen zu essen. Als sie die Zähne in das Hähnchenfleisch grub, wusste sie, was sie draußen in der Telefonzelle getan hatte. Das war nicht wirklich Vivien gewesen. Das war der Hillruc in ihr. Und plötzlich hatte sie auch einen Namen dafür: Lin.
    Lin nahm sich, was sie haben wollte. Lin war gewalttätig. Egoistisch. Leidenschaftlich. Verschlagen und gierig. Lin war all das, was Vivien bisher in sich abgelehnt hatte.
    Lin wollte nicht Opfer sein. Lin war Täterin.
    Professor Ullrich hatte den Wagen voll getankt. Abgehetzt kam er in der Raststätte an. Vivien hatte zwei abgenagte Hähnchenhälften vor sich liegen und bog gerade den Hamburger auseinander. Sie wollte das Brot nicht. Nur das Fleisch.
    Er setzte sich ihr gegenüber hin.
    «Meinetwegen», sagte er, «kannst du den Rest im Auto essen.»
    Sie rülpste ihm ins Gesicht. Er wusste sofort, dass sie sich wieder in einem anderen Bewusstseinszustand befand. Sie schaute seine Brust an, als hätte sie Lust, ihre Finger dort hineinzugraben und ihn aufzubrechen wie das Hähnchenskelett vor ihr.
    Dieser Eindruck war nicht ganz falsch. Vivien konnte sein Herz klopfen hören, obwohl sie die Tischplatte zwischen sich hatten und der Lärmpegel in der Gaststätte hoch war. Sie stellte sich vor, wie es war, in ein schlagendes Herz zu beißen. Dann verschlang sie den Rest des Hamburgers.

47
    Marga Vollmers hatte sich die Wohnung der Verwaltungsdirektorin anders vorgestellt. Irgendwie pompöser. Beeindruckender. Sie war fast ein bisschen enttäuscht.
    Die Terrassentür stand tatsächlich offen. Schon der erste Blick ins Wohnzimmer bestätigte Margas alte Putzfrauenweisheit: Die Studierten waren allesamt Schlampen. Vielleicht konnten sie Firmen leiten, Computerprogramme erfinden, Krankheiten heilen, Bücher schreiben - aber ihren Haushalt in Ordnung halten konnten sie alle nicht.
    Sie sah auf den ersten Blick, dass das Bücherregal keinerlei Ordnungsprinzipien aufwies. Weder alphabetisch noch nach Größe oder Farbe der Buchrücken - nein, das hier war einfach voll gestopft. Die Wohnung roch nach alter Pizza und abgestandenem Rotwein. Im Esszimmer lagen Scherben auf dem Boden. Marga schüttelte den Kopf. Sie unterdrückte den Impuls, die Porzellanscherben aufzuheben und die Cappuccinoflecken auf dem Boden aufzuwischen.
    Belustigt stellte sie fest, dass die große, gefürchtete Verwaltungsdirektorin die gleichen Tapeten an der Wand hatte wie sie selbst. Die Gardinen fand sie geschmacklos, sie passten überhaupt nicht hier hinein und außerdem hätten sie dringend mal gewaschen werden müssen.
    Sie wusste, dass sie in den Keller musste, um ihren Auftrag zu erledigen. Doch jetzt, da sie sich einmal in der Wohnung befand, wollte sie sich genau ansehen, wie ihre Konkurrentin lebte. Ich werde ihn dir wegnehmen, dachte sie. Er hat mich auserkoren. Er will dich nicht mehr. Sonst hätte er mich nicht angerufen. Vielleicht werden wir ihn eine Weile teilen müssen. Ein Stückchen von ihm reicht mir schon. Wenn ich nur in seiner Nähe sein darf. Ich werde ihn kriegen. Ich werde mich unentbehrlich machen. Ich werde ihm alle Wünsche von den Augen ablesen. Ich werde ihn glücklich machen. Und ich werde abnehmen.
    Marga erwartete, hinter der nächsten Tür das Arbeitszimmer von Dr.Sabrina Schumann zu finden. Solche Schnallen, dachte sie, haben immer ein Arbeitszimmer. Darin steht kein Bügelbrett, sondern ein unaufgeräumter Schreibtisch mit einem Computer, einem überquellenden Papierkorb und halb vollen, verklebten Kaffeetassen.
    Doch hinter der Tür war etwas anderes. Sie brauchte einen Moment, um wirklich zu begreifen, was sie sah.
    Sie stand in einer Art Museum. Gerahmte Fotos in Postergröße dominierten den Raum. Vier an jeder Wand. Es waren vergrößerte Details eines Männerkörpers. Marga wusste sofort, dass es Professor Ullrich war. Wer sonst.
    Direkt vor ihr sein rechter Nasenflügel. Jede einzelne Pore war sichtbar.

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