Karma-Attacke (German Edition)
so an der Tankstelle halten? Die werden denken, dass du mich entführt hast. Die werden die Bullen rufen.»
«Wenn du ruhig sitzen bleibst, ist das kein Problem. Wir…»
«Ich werde aber nicht ruhig sitzen bleiben. Ich werde schreien! Ich habe Hunger. Ich will was zu essen haben!»
Er griff nach hinten zu den Schokoriegeln, doch sie schüttelte den Kopf. «Ich will etwas Richtiges.»
«Du meinst, wir sollten in ein Restaurant gehen?»
«Genau.»
«Und wenn der Hillruc uns da…»
«Er kann uns überall kriegen. Wenn ich verhungere, hat er auch gewonnen.»
«Übertreib nicht, Vivien.»
Sie legte den Kopf zur Seite und ließ ihn auf ihrer Schulter baumeln, als ob die Halsmuskeln ihn nicht mehr tragen würden. Im Außenspiegel konnte sie so ihr eigenes Gesicht sehen und erschrak. Sie fand, dass sie aussah wie ihre Mutter kurz vor ihrem Tod. Nicht wie fünfzehn, sondern wie fünfunddreißig. Sie hatte tiefe schwarze Ringe unter den Augen.
Noch dreihundert Meter bis zur Tankstelle. Er hatte schon den Blinker gesetzt.
«Du wirst doch jetzt keine Schwierigkeiten machen, Vivien?»
«Und ob!»
Er wusste, wie hartnäckig sie sein konnte. So wie sie jetzt aussah, mit diesen zusammengekniffenen Lippen, der straffen Haut über den Wangenknochen, als wäre sie zu eng für das Skelett darunter, konnte man sie höchstens noch mit Psychopharmaka ruhig stellen. Argumente halfen jetzt nicht mehr. Entweder er tat, was sie sagte, oder sie würde ausflippen.
«Okay», sagte er, «okay. Ich mach dich los.»
Er tat es augenblicklich. Er steuerte mit der Linken und nahm mit der Rechten das Fleischermesser vom Armaturenbrett. Es sah bedrohlich aus, und als er Vivien berührte, knisterte es. Eine elektrische Spannung entlud sich in Fünkchen. Mit einem kurzen Schnitt trennte er das braune Paketband durch. Den Rest erledigte sie selbst.
Die starre Fesselung hatte Vivien auch ein Stück Halt gegeben. Das bemerkte sie erst jetzt, denn sie sackte auf dem Sitz in sich zusammen. Ihre Wirbelsäule schmerzte und die Gelenke fühlten sich steif an.
Zweihundert Meter. Sie reckte sich im Sitz. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden und versuchte herauszufinden, was sie als Nächstes tun würde. Er musste sich eingestehen, dass er sie zwar gut kannte, aber trotzdem nichts vorhersagen konnte. Sie war wie er. Für andere unberechenbar.
«Mach das nie wieder mit mir. Nie wieder! Ich töte dich, wenn du mich noch mal anschnallst. Ich hasse dieses Gefühl!»
Noch hundert Meter.
«Vivien, bitte. Du kriegst ja, was du willst. Es gibt dort eine Raststätte. Wir werden dort reingehen, etwas essen und so schnell wie möglich wieder abhauen. Du weißt, was auf dem Spiel steht.»
Er nahm die Einfahrt viel zu schnell. Er musste den Wagen hart abbremsen, um nicht in die Warteschlange vor der Zapfsäule zu krachen. Hier standen viel zu viele Autos, und er wollte auf keinen Fall zehn Minuten lang herumstehen und warten, bis er endlich dran war. Andererseits schien es ihm klüger zu sein, erst den Wagen voll zu tanken und dann ins Restaurant zu gehen, damit sie die Flucht fortsetzen konnten, falls sie entdeckt wurden.
So weit dachte Vivien nicht. Sie wollte essen.
Während er noch zögerte, öffnete sie bereits die Beifahrertür.
«Du kannst ja gerne hier warten. Ich gehe jetzt ins Restaurant.»
Ihm wurde klar, dass es gar nicht so sehr ums Essen ging. Dies hier war ein Akt der Selbstbehauptung.
Ihm wurde speiübel bei dem Gedanken, doch trotzdem sprach er ihn aus: «Okay, Vivien. Du bist nicht meine Gefangene. Alles, was ich tue, geschieht nur zu deinem Schutz. Geh schon. Ich komme gleich nach.»
Sie knallte die Autotür zu und machte ein paar Schritte. Dann rief er hinter ihr her: «Hey, Vivien! Vivien!»
Sie drehte sich nicht um.
Noch einmal rief er: «Vivien! Bitte!»
Jetzt blieb sie stehen und wandte sich ihm langsam zu. Er winkte mit einem Geldschein.
«Hier ist nicht Thara! Hier muss man bezahlen! Mit bedrucktem Papier!»
Es war ein Scherz, und sie konnte sogar darüber lachen.
Sie tänzelte auf ihn zu, schnappte sich den Fünfzigeuroschein und lachte: «Na, dann will ich’s mal damit versuchen.»
Er fuhr ihr übers Haar. Wieder knisterte es.
«Freunde?», fragte er.
Vivien nickte und stupste ihm einen angedeuteten Faustschlag gegen die Rippen.
«Freunde.»
Dann rannte sie zur Raststätte.
Der Junge in der Telefonzelle war kaum ein Jahr älter als Vivien. Er schob seine Telefonkarte in den Schlitz und vertippte sich, denn
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