Karma-Attacke (German Edition)
dass es noch viele solcher Exklienten gab. Er hatte nicht alle Adressen, aber einige kannte er auswendig. Die von den besonders interessanten Fällen, die ihm noch lange nach ihrer Entlassung Briefe und Postkarten geschickt hatten. Zunächst wöchentlich, dann monatlich, später nur noch zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Auf irgendeine Art war der Kontakt nie abgerissen. So als müssten sie sich vergewissern, dass es den Professor wirklich noch gab. Dass nicht alles nur eine Illusion gewesen war.
Irgendwann würde die Kripo die Liste all dieser Leute haben und sie der Reihe nach aufsuchen, dachte Professor Ullrich. Dann gab es für ihn keine sicheren Wohnungen mehr. Er saß am Fenster und beobachtete die Straße. Nebenan, in Sina Bergers französischem Bett, lag Vivien und schlief.
Sina wagte den Professor nicht zu fragen, wie lange er bleiben wollte. Natürlich würde sie ihm so lange Asyl gewähren, wie er wünschte. Ihr Mann kam nicht vor elf Uhr abends vom Taxifahren nach Hause. Sie konnte sich seine Reaktion gut vorstellen: Er würde eifersüchtig sein und bohrende Fragen stellen. Sina liebte ihren Robert. Zumindest hatte sie das bis vor wenigen Minuten geglaubt. Aber wenn er darauf bestand, dass sie Professor Ullrich verriet, würde er sich eine andere suchen müssen. Sie hoffte, dass sie sich nicht zwischen den beiden entscheiden musste. Wenn sie aber dazu gezwungen würde, dann stand ihre Entscheidung bereits fest.
Sie hatte dem Professor etwas eingepackt. Obst. Brot. Käse. Eine Flasche von ihrem besten Barbera. Sie war bereit, ihm ihr Auto zu geben, aber er hatte es nicht von ihr verlangt. Er hatte gar nichts verlangt.
Jetzt hatte er sein Handy am Ohr. Er war so konzentriert, Sina wagte es nicht, ihn anzusprechen. Leise verließ sie den Raum und ging nach unten ins Restaurant.
Der Professor schaute nicht einmal auf. Er hatte die Autokarte vor sich ausgebreitet und dirigierte Marga zu einem Treffpunkt.
«Seit wann verfolgt er Sie?»
«Ich weiß es nicht genau. Seit Stunden. Ich glaube, kurz hinter Koblenz habe ich ihn zum ersten Mal bemerkt. Ein blauer Audi A4 mit dem Kennzeichen K-AL-765. Entweder ist es ihm egal, ob ich ihn bemerke, oder er hält mich für blöd.»
«Das ist Kommissar Ackers.»
«Woher wissen Sie …»
«Wenn die Kripo hinter Ihnen her wäre, würden die sich mit verschiedenen Fahrzeugen laufend abwechseln.»
«Aber Herr Ackers ist doch von der Kripo.»
«Er arbeitet auf eigene Faust. Ohne seine Kollegen.»
Margas Stimme klang gar nicht ängstlich, als sie fragte: «Will er mich umbringen?»
«Nein. Er will nur, dass Sie ihn zu mir führen. Sie brauchen ihn nicht zu fürchten. Aber Sie müssen ihn abhängen. Egal wie.»
«Ja, was soll ich denn…» Er erwartet etwas von mir, dachte Marga. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Nicht jetzt. Wenn er merkt, dass ich Angst habe, wird er einer anderen die Chance geben, ihm zu helfen.
«Ihnen fällt schon was ein. Fahren Sie erst mal an eine Raststätte. Setzen Sie sich in ein Restaurant. Dann muss er sich zeigen.»
«Aber ich will zu Ihnen.»
«Nicht so lange er an Ihnen klebt.»
Sie war maßlos enttäuscht. Es reizte sie gar nicht, in einem Restaurant etwas zu essen. Diese Zeiten waren vorbei. Die Ersatzbefriedigung brauchte sie nicht mehr. Sie suchte eine andere Lust. Die eigentliche. Dabei stand ihr Ackers im Weg. Sie fühlte in sich die Bereitschaft, ihn zu beseitigen, notfalls zu töten, um ihn abzuschütteln. Solche Gefühle hatte sie bisher nicht gekannt. Oder sich zumindest nicht zugestanden.
In Margas Kopf formte sich ein Plan. Sie wusste nicht, ob es ein aussichtsloser Versuch war oder eine unglaublich clevere Idee. Aber sie würde es wagen.
52
Marga Vollmers lachte. Was ist aus mir geworden, dachte sie. Was tue ich hier eigentlich? Sie stellte sich vor, was sie in diesem Augenblick tun würde, wenn ihr Leben durch den Anruf des Professors nicht so restlos aus den Fugen geraten wäre. Sie konnte jeden Handgriff genau beschreiben. Und sie vermisste keinen einzigen davon. Erst wären die Sozialräume dran gewesen und dann die Kantine.
Sie rief ihren Bruder Johannes an, genannt Jogi. Seine Werkstatt war keine halbe Stunde von hier entfernt und lag direkt an der Autobahn.
Marga wusste, dass Jogi keine Fragen stellen würde. Sie hatte sooft für ihn gelogen - nun musste er einmal etwas für sie tun. Jogi, der treu sorgende Familienvater, der ein Verhältnis mit einer ebenfalls verheirateten Frau hatte.
Marga hatte
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