Karma-Attacke (German Edition)
du mich hypnotisierst.»
«Dazu brauche ich die Augen nicht.»
«Ich weiß.»
«Warum also schaust du mich nicht an?»
«Immer, wenn ich dich sehe, sehe ich auch einen Hillruc.»
«Ja, das kann ich verstehen, Vivien. Wir sind aus einem Holz geschnitzt. Wir haben eine ähnliche Vergangenheit. Wir sind beide von Thara. Du weißt es so gut wie ich.»
«Hast du meine Mutter getötet?»
Jetzt riss sie doch die Augen auf, denn sie spürte seine stumme Reaktion. Er schüttelte den Kopf. «Nein. Ich habe dich beschützt. All die Jahre. Wärst du nicht zu mir gekommen, hätte ich vielleicht nie erfahren, wie es um mich selbst auf Thara bestellt war. Ich kenne nur eine einzige eigene Thara-Inkarnation. Da war ich Josch. Und du Uta. Ich habe dich beschützt und …»
Vivien konnte sich vorstellen, was er weiter sagen würde. Sie wollte jetzt nicht von ihm hören, was für ein guter Mensch er war. Ihre Dankbarkeit brauchte keine weitere Nahrung.
«Habe ich Urs getötet?»
Er antwortete nicht.
«Ich war ganz voll Blut. Ich habe in seinen Gedärmen gewühlt, stimmt’s? Ich bin zu Lin geworden und habe ihn …» Sie verschluckte den Rest.
Wieder schüttelte der Professor den Kopf. «Nein, Vivien. So war es nicht ganz. Wir haben ihn gemeinsam erlegt.»
Erlegt, dachte Vivien. Er hat tatsächlich «erlegt» gesagt. Das Wort erschreckte sie noch mehr als die Vorstellung, dass sie gemeinsam mit dem Professor einen Menschen in Stücke gerissen hatte.
Jetzt kamen klarere Bilder. Sie sah sich am Ufer sitzen, sah, wie der Professor ihr das Gesicht wusch. Wie ihre Hände in das Wasser des Vierwaldstätter Sees eintauchten, wie sich das Blut von den Schwielen ihrer Finger löste und im See verdünnte. Kleine Fische, die von dem Geschmack angelockt wurden und sich ihren Fingern bedenklich näherten.
Sie hörte seine Stimme. «Wir müssen hier weg, Vivien. Dreh jetzt nicht durch. Ganz ruhig. Wir werden uns waschen und dann ins Hotel zurückgehen.» Sie hatte die Finger aus dem See gezogen, als könnten die Fische nach ihnen schnappen: «Ich will unter die Dusche. Unter die Dusche.»
«War Urs Toi?», fragte sie nun. «Ist es vorbei? Haben wir ihn gemeinsam umgebracht?»
Professor Ullrich schüttelte noch einmal den Kopf. «Ich glaube nicht, Vivien.»
«Warum nicht? Er muss Toi gewesen sein. Warum sonst hätten wir ihn töten sollen?»
«Er hat nicht gekämpft, wie Hillrucs kämpfen. Toi hätten wir nicht so einfach in Stücke gerissen.»
Vivien ahnte, dass er Recht hatte. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. «Mach mich los», bat sie. «Wir müssen hier weg.»
«Ja, Vivien. Wir müssen hier weg. Aber wohin?»
«Er weiß jetzt, wo wir sind.»
«Ja. Alle wissen jetzt, wo wir sind. Sie werden längst hier sein. In Luzern.»
«Kennst du nicht irgendwen, der uns verstecken kann?»
Er dachte an den Schlachthof. Der Vorarbeiter, der Chef - sie würden ihn alle gern wieder nehmen. Aber Freundschaften hatte er dort nicht geschlossen. Er war immer auf Distanz bedacht gewesen, hatte nicht zu viel von sich zeigen wollen. Nein, dies Hotel war im Moment der beste Ort. Niemand suchte einen Vater und seinen Sohn.
«Vor der Polizei», sagte er, «sind wir hier zunächst sicher.»
«Aber Toi! Toi wird uns finden!», kreischte Vivien.
«Der findet uns sowieso. Wir können ihm nicht entkommen, Vivien. Wir müssen uns dem Kampf stellen. Wir müssen ihn töten, wie wir diesen Urs getötet haben. Wir können es. Das weißt du jetzt. Lass mich dich zurückführen, Vivien, damit wir herausfinden, wer Toi ist. Dann kommen wir ihm zuvor.»
Sie war mit ihren Kräften am Ende, und trotzdem wuchs in ihr die Bereitschaft, sich zu diesem Zweck noch einmal zurückführen zu lassen. Insgeheim hoffte sie, dass Urs doch Toi gewesen war, denn sie wünschte sich nur, dass das Grauen nicht mehr vor ihr lag, sondern hinter ihr.
79
Zielstrebig bewegte sich Professor Ullrich durch die Stadt. Er hatte den Namen des Geschäftes vergessen, aber er wusste genau, wo es lag. Ein Sportgeschäft mit einer Spezialabteilung für Bergsteiger. Eigentlich hatte er als Oma dort aufkreuzen wollen, doch es war ihm wichtig, die Bergschuhe anzuprobieren. Dafür nahm er das Risiko, erkannt zu werden, in Kauf.
Vivien hatte er im Hotel gelassen. Sie befand sich in einem Zustand äußerster Nervosität. Er würde sie nicht länger allein lassen als unbedingt nötig.
Noch nie hatte er so viel Polizei auf den Straßen gesehen. Es war ihnen anzusehen - die suchten keine
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