Karma-Attacke (German Edition)
und bestimmt wie sein Verstand. Plötzlich erschien ihm diese Kontrollinstanz in seinem Kopf wie ein von der Gesellschaft eingepflanzter Filter.
Er wickelte das Kleid von seinem Handgelenk. Die Blutung war noch nicht zum Stillstand gekommen, aber der Energieverlust beunruhigte ihn nicht. Er ging ins Badezimmer, um sich ein Handtuch zu holen. Das Geräusch der Lüftung nervte ihn. Es war, als wollte das Ding mit ihm sprechen.
Er blickte hinauf zu dem weißen Plastikgitter in der Decke, durch das die Nebelschwaden eingesaugt wurden, und schrie: «Wenn du so schlau bist, wieso kannst du dann nicht mal die heißen Dämpfe aus diesem Raum ableiten?»
Hysterisch lachend band er die nässende Wunde erneut ab. Mein Gott, dachte er, was tue ich hier? Ich schreie den Raumlüfter an!
Als er die Badezimmertür schloss und das Licht ausmachte, erstarb das Geräusch im Badezimmer. Der Professor grinste. «Halt die Klappe!»
Vivien lag jetzt ruhig da. Er fand ihre Haltung auf eine peinliche Art obszön, deshalb holte er eine der Wolldecken aus dem knarrenden Holzschrank, breitete sie aus und warf sie von weitem über die Ruhende. Dabei huschte ein Bild durch seinen Kopf. Wie ein Fischer, dachte er, der sein Netz auf einen vorbeihuschenden Schwarm wirft.
«Es ist dir lange gelungen, alles in der Waage zu halten», sagte er sich selbst. «Du hast immer gespürt, dass etwas mit dir anders ist. Dass es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt. Etwas, das die anderen nicht sehen können oder nicht sehen wollen, das du aber am eigenen Leib erlebt hast und deswegen nicht leugnen kannst. Du hast versucht, ihr Spiel mitzuspielen, und es ist dir auch ganz gut gelungen. Das Kneten mit den Fingern war dein Ventil. Du hast dein HillrucWesen leben können, und sei es nur im Urlaub in der Schlachterei. Du hast deine Forschungen betreiben können, um immer mehr Gewissheit zu bekommen. Eigentlich war dein Leben im Gleichgewicht. Du hast das Ventil zu weit geöffnet. Du kannst das Spiel hier nicht wie auf Thara spielen. Du musst dich hier nach ihren Regeln richten.»
Ohne die Augen zu öffnen, bat Vivien um ein Glas Wasser. Ihr Tonfall verriet, dass sie wieder ganz das kleine Mädchen war. Vivien. Seine Prinzessin. Die Königin der geschlossenen Abteilung. Seine Lieblingspatientin.
Er unterdrückte den Impuls, das Fernsehen einzuschalten, um mehr über die Fahndung zu erfahren. Er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen.
Während er ein Glas unter den Wasserhahn hielt, betrachtete er seine Hand und wusste, dass sie einst eine Klaue gewesen war. Das Wort gefiel ihm nicht. Es klang so abwertend. Dabei war seine Hillruc-Hand um ein Vielfaches geschickter, stärker und gleichzeitig sensibler gewesen. Eine tödliche Waffe. Ein eiserner Schraubstock. Und ein hochempfindsames Tastgerät. Röntgenapparat. Lügendetektor. Dagegen erschienen ihm menschliche Finger wie verkrüppelte Wurmfortsätze. Er wusste, dass die Menschen nicht ein Stück Stoff berühren konnten, um dann zu wissen, wie der Besitzer sich fühlte. Ob er seine Frau liebte, betrog oder schlug. Ob er verzweifelt war oder an welcher Krankheit er litt.
Er legte die Rechte in Viviens Nacken und half ihr, den Kopf gerade zu halten. Behutsam hielt er ihr das Glas an die Lippen und ließ das Wasser in ihren Mund gluckern. Bei jedem Schluck ging ein Schwall daneben.
Vivien öffnete die Augen und sah ihn dankbar an. Das Wasser brachte das Leben in ihren Blick zurück. Sie atmete tief aus. Dann sah sie sein Handgelenk. «War ich das?», fragte sie.
Er nickte.
Sie sackte in sich zusammen, und gleich darauf verkrampfte sich ihre Nackenmuskulatur. Die Lippen bebten. Da er immer noch ihren Kopf hielt, konnte er spüren, wie sehr ihr Verstand raste. Die Bilder überlagerten einander. Der Hexenkessel. Die Rastatänzer. Der junge Mann an der Theke. Der Spaziergang am See. Dann Schläge. Das Platzen von Haut. Blut. Dazwischen Bilder ihrer Mutter. Ihr Vater. Der Kopf von Frau Dr.Schumann auf dem Tisch. Rottmanns ausgeweidete Leiche.
«Hast du Urs getötet?» Ihre Stimme zitterte.
Ullrich ließ sie los und ging ein paar Schritte auf und ab.
Vivien bemühte sich um einen sicheren, festen Ton, doch aus ihren Worten sprach helle Panik. «Hast du ihn getötet? Sag es mir! Hast du auch meine Mutter getötet? Herrn Rottmann und Frau Dr.Schumann?»
Jetzt blieb der Professor stehen und schaute sie an.
Vivien schloss die Augen.
«Warum siehst du mich nicht an?», fragte er.
«Ich hab Angst, dass
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