Karma-Attacke (German Edition)
überhaupt nicht aussah wie ein Schriftsteller, sondern eher wie ein Karatelehrer oder Preisboxer, legte gestikulierend seine Theorie über den Mord am Nationalkai dar. Da die Tat höchstens hundert Meter Luftlinie von ihnen entfernt begangen worden war, hatten alle eine Meinung dazu. Das fand Tom spannend. Er fragte, ob er sich dazusetzen dürfe. Sie musterten ihn kurz, und dann nickten sie ihm zu. Sie tranken alle Milchkaffee aus großen Tassen, und Tom bestellte: «Genau so etwas. Und so ein Brot.»
«Was Eingeklemmtes nennt man das hier in der Schweiz», sagte eine Frau und warf die Haare zurück. Tom sah in ihrer Handtasche einen Stapel Porträts von ihr und konnte ihren Vornamen entziffern, Christa, mehr nicht. Also saß er mit berühmten Leuten am Tisch. Menschen, die Autogrammkarten bei sich trugen, die gewohnt waren, dass man ihnen zuhörte, dass ihre Meinung etwas galt, dass man sie erkannte und respektvoll behandelte. Trotzdem war es, als gehörte er dazu.
Werner erzählte, dass er in Arizona gelebt und sich lange Zeit einen Wolf als Haustier gehalten habe. «Wenn ein Wolf einen Menschen angreift», sagte er, «sieht der danach anders aus. Die Menschen sind die schlimmsten Tiere. Sie schieben das jetzt den Wölfen in die Schuhe, weil sie nicht sehen wollen, was Menschen anrichten.» Peter glaubte, dass Hürlimann auf der anderen Seite des Sees getötet und dann mit dem Schiff herübergebracht worden war. Wolfgang befürchtete, die Ermittlungen der Schweizer Kriminalpolizei gingen viel zu sehr in Richtung Schwulenszene, und man würde das Verbrechen zum Vorwand nehmen, die mal ordentlich «aufzumischen».
Allmählich bekam Tom mit, dass es sich bei seiner Tischgesellschaft um eine Gruppe von Jugendbuchautoren handelte. Der Schweizer Veranstalter des Treffens, Peter, hoffte nur, dass keiner der Gäste erwog, vorzeitig abzureisen, denn er wollte keine der Lesungen in den Schulen des Kantons ausfallen lassen.
Jürgen fand es schlimm, dass es gar kein anderes Thema mehr gab, so als sei alles andere unwichtig geworden. «Früher», sagte er, «brauchten Regierungen einen Krieg, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, heute haben kriminelle Psychopathen diese Funktion übernommen.»
Zum ersten Mal mischte Tom sich ins Gespräch ein. «Wollen Sie damit sagen, die Regierung hätte was mit der Sache zu tun?»
Jürgen schüttelte den Kopf. Nein, so habe er das nicht gemeint. Initiiert habe sicherlich keine Regierung so etwas, aber bei der Arbeitslosigkeit und den vielen ungelösten Problemen könne es jeder Regierung doch nur recht sein, wenn die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als ihr Versagen gelenkt werde.
Das Gespräch nahm Tom völlig gefangen. Inzwischen erinnerte er sich. Er hatte die Stimme erkannt. Dieser Jürgen war auch mal in seiner Schule gewesen. Er hatte aus einem Buch vorgelesen über einen Jungen, der furchtbar von seinem Vater misshandelt wurde. Tom hatte sich eine Dichterlesung grässlich langweilig vorgestellt und eigentlich blaumachen wollen. Aus einem Grund, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, war er dann doch geblieben und entgegen seinen Erwartungen hatte er sich damals nicht gelangweilt. Später hatte er die Buchabteilung vom Kaufhof nach dem Roman durchstöbert. Dort war er nicht fündig geworden, und am Ende hatte er ihn in einem kleinen Buchladen auf der Ehrenstraße geklaut. Es war das erste und einzige Buch, das Tom Götte freiwillig vom Anfang bis zum Ende gelesen hatte.
Jetzt erst wurde Tom bewusst, dass er seine Bestellung längst vor sich stehen hatte. Er blies über den Milchkaffee und nahm vorsichtig einen Schluck. Dann, gerade als er in das Brötchen beißen wollte, wurde ihm heiß im Rücken. Es war, als würde er von hinten angesehen. Er wusste nicht, wie man so etwas merken konnte, aber er merkte es.
Er wirbelte nicht einfach herum, sondern schaute zu dem Spiegel an der Theke. Dort sah er ihr Gesicht. Das war sie: Vivien. Sie sah aus wie ein lungenkranker Junge, wie gerade der Intensivstation entsprungen, aber er hatte zu oft davon geträumt, dass sie ihm mit diesen Lippen einen blies, als dass er ihr Gesicht hätte vergessen können.
Am liebsten wäre er aufgestanden und auf sie zugelaufen. Doch er fürchtete, sie zu verraten. Sie hatte sich sicherlich nicht ohne Grund verkleidet. Wenn er ihre Tarnung auffliegen ließ, würde sie sich dafür nicht gerade bedanken. Um Zeit zu gewinnen, biss er erst einmal in das Brötchen.
Er musste sie nicht
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