Karma-Attacke (German Edition)
Josch wird mich retten. Josch ist gut.»
«Dann kannst du jetzt beruhigt zu mir zurückkommen. Ich habe schon bis drei gezählt. Du wirst in deinem Zimmer in der Klinik wach. Du fühlst dich gut und ausgeruht. Du erinnerst dich an alles, aber es macht dir keine Angst mehr. Es ist vorbei. Du bist Vivien.»
Ihr Kopf bewegte sich. Die Nackenmuskulatur hatte wieder Spannung. Sie schob das Kinn vor und zog Grimassen. Manchmal stimmte, wenn sie aus Thara zurückkam, ihr Gesichtsausdruck noch nicht mit ihren Gefühlen überein. Sie sah aus, als wollte sie weinen, und doch erzählte sie fröhliche Geschichten. Jetzt entstellten spastische Zuckungen ihr Gesicht. Mühsam hielt sie die Augen geöffnet, dann fielen sie ihr wieder zu.
Professor Ullrich ließ ihr Zeit. Er überlegte, ob es richtig sei, sie aufs Bett zu heben, entschied sich aber dagegen. Stattdessen kniete er sich hinter sie, massierte ihren Nacken und ihre Schultern und strich die Verkrampfungen über den Rücken nach unten aus. Dabei atmete er heftig aus und schüttelte immer wieder seine Hände aus. Er wollte die schlechten Energien, die Ängste und Schrecken aus Thara, auf keinen Fall bei sich behalten.
«Vivien? Wie geht es dir?»
Sie nickte. Inzwischen konnte sie die Augen gut offen halten. Die Zuckungen ließen nach, nur noch die Augenbrauen und die Unterlippe vibrierten unkontrolliert.
«Das heißt also, Dana ist auch von Thara?»
Vivien zuckte mit den Schultern. «Sie isst doch wieder!»
«Und wie. Woher wusstest du, dass sie eine von uns ist?»
«Na, weil sie nicht gegessen hat und lieber sterben wollte.»
Er lächelte milde. «Aber Vivien. Millionen Mädchen auf der Welt haben Essstörungen. Nicht alle Magersüchtigen kommen von Thara.»
«Meinst du nicht?»
«Nein. Auf keinen Fall.»
«Dana schon.»
Er setzte sich schwer aufs Bett und drückte die Fingerspitzen gegeneinander. «Hast du es einfach ausprobiert oder irgendwie geahnt? Ich meine, gibt es etwas, woran du die Seelen von Thara erkennst?»
Wieder schüttelte sie den Kopf. Dann sagte sie: «Na ja, ich hatte vielleicht so ein komisches Gefühl. Außerdem …»
«Außerdem was?»
«Außerdem glaube ich nicht, dass wir beide hier allein sind.»
«Woher weißt du, dass ich auch einmal auf Thara gelebt habe?»
Sie lachte. «Du hast es mir gesagt.»
«Ja, aber… kannst du es auch irgendwie erkennen?»
Vivien schaute ihn regungslos an. Ihr Gesicht war starr wie das einer Schaufensterpuppe.
«Am Anfang», sagte sie, «dachte ich sogar, dass du lügst, nur um mir einen Gefallen zu tun. Weil doch alle anderen meinten, ich wäre verrückt. Nur du hast gesagt: Ich kenne das; du bist nicht verrückt; es sind Erinnerungen aus früheren Leben; ich habe so etwas auch.»
Nachdenklich schabte er sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln. Das Verlangen, etwas mit den Fingern zu erforschen, wurde übermächtig in ihm. Viviens Hals. Der Stoff ihrer Hose. Die Baumwollfasern, die ihren Fuß umhüllten. Seine Finger wollten auf Entdeckungsreise gehen. Er zwang sie, mit dem Knetgummi vorlieb zu nehmen.
Früher hatte er als einer gegolten, der Frauen befummelte. Im Kino war er mal an die Falsche geraten. Sie hatte ihn angezeigt, doch die Sache war niedergeschlagen worden. Er hatte im Dunkeln nicht etwa nach ihrer Brust gegrabscht, sondern ihren Oberarm so vorsichtig abgetastet, dass sie es zunächst gar nicht bemerkte. Es war nicht ihr Körper gewesen, der ihn anzog, es war ihr flauschiger Angorapullover.
«Aber manchmal», flüsterte Vivien, «manchmal ist das schon so. Manchmal habe ich das Gefühl, jemanden, den ich zum ersten Mal sehe, schon lange zu kennen. Bei dir war das so. Bei Dana auch. Wenn auch nicht so stark wie bei dir.»
Er formte das Gummi in seiner Hand zu einem Kegel.
«Mir geht es auch so. Zum Beispiel kann jemand mir von Anfang an unsympathisch sein. Er hat eigentlich nichts Schlimmes gemacht - in diesem Leben. Aber vielleicht hat er mir in einem früheren mal sehr wehgetan.»
«Bei mir ist das meistens umgekehrt. Ich finde jemanden ganz nett, obwohl er eigentlich ruppig ist oder gemein.»
Der Professor schaute auf die Uhr. «Ich muss gehen.» Er bot ihr die Hand zum Aufstehen, doch sie lehnte kopfschüttelnd ab.
Als er schon in der Tür stand, riet sie ihm, am Abend etwas Warmes anzuziehen. «Es wird kalt», sagte sie. «Ein Tiefdruckgebiet kommt auf uns zu.»
In der Nacht riss Dana ihr Betttuch in Fetzen und versuchte sich damit zu erhängen, während ein
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