Karma-Attacke (German Edition)
versuchte sich abzustoßen. Die Stirn und die rechte Hand lösten sich zuerst, die linke schaffte es nicht allein. Er musste die Rechte zu Hilfe nehmen. Sie umklammerte das linke Handgelenk. Dann warf er sich mit dem ganzen Körper in Richtung Schreibtisch und löste sich.
Es klopfte an der Tür, ungeduldig, ja, unanständig fordernd. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon allein hier war, und vermutete, dass der Mensch, der da Einlass begehrte, schon eine ganze Weile wartete.
«Jetzt nicht!», rief er barsch.
Die Stimme von Kommissar Ackers war schneidend. «Ich muss darauf bestehen!»
Professor Ullrich ordnete seine Kleidung, atmete lang aus und öffnete. Ackers und Wust drängten sich sofort an ihm vorbei in den Raum. Sie sahen wütend aus. Irgendetwas musste passiert sein, etwas, das sie gegen ihn aufbrachte.
Er fixierte die beiden und krallte dabei die Zehen gegen das Innenleder seiner Schuhsohlen. So hatte er einen festen Stand, war sprungbereit. Er lächelte in sich hinein. Ein archaischer Fluchtimpuls, das Tier in ihm spürte den drohenden Angriff.
Ackers fixierte ihn. «Was finden Sie so amüsant, Professor Ullrich?»
Ullrich winkte ab und schwieg.
Ackers nickte. «Vermutlich kapieren wir das nicht, richtig? Darin sind sich hier ja wohl alle einig. Insassen wie auch Pflegepersonal.»
Ullrichs Lächeln wurde breiter.
Wust hatte Mühe, sich zurückzuhalten, Ackers war derjenige, der die Attacke ritt. Den Zeigefinger wie eine Lanze auf Ullrichs Gesicht gerichtet, rückte er vor. «Warum haben Sie uns das nicht gesagt?»
Ullrich wich nicht zurück. «Was?»
«Vivien Schneiders Mutter wurde auf die gleiche Art und Weise getötet wie dieser…» In der Erregung hatte Ackers den Namen des Opfers vergessen. Wust sekundierte: «Rottmann.»
Professor Ullrich verschränkte die Arme vor der Brust. «Ist das so? In meinen Akten steht ‹Verkehrsunfall›.»
Er umklammerte seine Oberarme. Das würde blaue Flecken geben, aber im Moment war ihm das völlig egal. So hatte er seine Finger wenigstens ein bisschen unter Kontrolle. Er schob die Daumen in die Achselhöhlen und klemmte sie dort fest.
Ackers versuchte zu lächeln, scheiterte aber. «Na klar», sagte er, «genauso haben die Kollegen es auch aufgenommen. Verkehrsunfall mit Fahrerflucht auf einsamer Landstraße. Frau Schneider lag mindestens zwei Tage im Straßengraben. Wilde Tiere haben ihren Leichnam so zugerichtet.»
Er konnte den Blick nicht von den Tonarbeiten auf dem Schreibtisch wenden. Diese aufplatzenden Embryos schienen zu brüllen, ihn um Hilfe anzuflehen, und doch hätte er, der Kommissar, sie am liebsten mit einem Hammer zertrümmert. Solche qualvollen Gestalten hätte es nicht geben dürfen, fand er. Auch nicht als Kunstwerke. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Aus solch krankhaften Darstellungen wurden Albträume. Die Dinger erschienen ihm gefährlicher als jeder Splatterfilm. Er hasste die Macher von Gewaltvideos genauso wie den Urheber dieser widerwärtigen Tonkreaturen. Für ihn war die Kunst die Theorie und die Gewalt auf der Straße, mit der er es täglich zu tun hatte, die Praxis.
Unvermittelt warf er einige Polizeifotos auf den Tisch. Eins landete neben den Figuren. Die Leiche darauf ähnelte den Kunstwerken auf bestürzende Weise, doch Ackers und Wust bemerkten es nicht.
«Schauen Sie sich die Fotos genauer an», forderte Ackers. Wust nickte und reckte das Kinn vor. Schweigen erfüllte den sauerstoffarmen Raum. Jeder wartete auf ein Wort des anderen.
Schließlich hielt Wust es nicht mehr aus. Er fauchte: «Welche Tiere denn bitte schön? Welche Tiere machen - so etwas?»
«Füchse. Ratten vielleicht», sagte Professor Ullrich, legte den Kopf schräg und schaute sich die Bilder an, als sei er ein dafür ausgebildeter Fachmann. «War Wasser in der Nähe?»
«Wasser? Wieso Wasser?»
«Es könnten Aale gewesen sein.»
Wust schüttelte den Kopf. «Die Leiche lag nicht im Wasser.»
Ackers warf Wust einen missbilligenden Blick zu. Wieder einmal hatte der junge Kollege seine Ahnungslosigkeit demonstriert. Fast genüsslich klärte Professor Ullrich ihn auf: «Aale krauchen nachts oft durch feuchte Wiesen - auf der Suche nach Aas.»
Für Ackers war das alles nur überflüssiges Gerede. Er tippte mit dem Zeigefinger gegen Professor Ullrichs Brust. Dabei geschah etwas Sonderbares: Er zuckte zurück. Er war an eine merkwürdig vibrierende Energie geraten. Schon Sekunden später war es vorbei, doch er wollte das lieber nicht
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