Karma-Attacke (German Edition)
Argument war.
Dann drehte Professor Ullrich sich um und suchte aus seinen Videokassetten die Aufzeichnungen der fraglichen Nacht heraus. «Vivien Schneider», sagte er, «ist eine besondere Patientin. Sie hat manchmal schlimme Albträume, die …» Er hielt inne. «Ach, sehen Sie sich doch einfach diese Kassette an. Sie ist nachts mitgelaufen.»
Wust stieß einen leisen Pfiff aus.
Tatsächlich waren unten auf dem Videobild Datum und Uhrzeit eingeblendet.
«Sie lassen die ganze Nacht eine Videokamera laufen?», fragte Wust ungläubig.
Professor Ullrich schüttelte den Kopf. «Nein. Das Ganze funktioniert über Bewegungssensoren. Wenn sie sich nachts umdreht, schlafwandelt oder…»
«Sie ist praktisch nie wirklich allein?», hakte Ackers nach.
«Wenn Sie so wollen. Wir versuchen hier wirklich, unseren Patienten zu helfen. Die Psychiatrien sind vielerorts in die Kritik geraten. Als würden wir die Leute nur verwahren und mit Medikamenten ruhig stellen. Das stimmt nicht, wie Sie sehen. Wir haben eine hohe Heilungsquote. Dies hier ist keineswegs für jeden die Endstation. Vermutlich auch für Vivien Schneider nicht.»
Auf dem Monitor sah man Vivien. Im Nachthemd. Sie hatte ihr Bett verlassen und begann, sich ungeniert vor der Kamera umzuziehen, schlüpfte in ihre Straßenkleidung.
«Was soll das? Wo will sie hin?», fragte Ackers.
Ullrich lächelte. «Sie kann nirgendwohin. Dies ist die Geschlossene. Schon vergessen?» Doch etwas beunruhigte ihn. Vivien hielt ein Polaroidfoto in der Hand, von dem er nichts wusste. Auch passte es ihm gar nicht, dass sie sich mitten in der Nacht anzog. Er tat so, als wäre das alles ganz normal, doch das war es keineswegs.
Zweimal guckte Vivien zur Videokamera und streckte die Zunge heraus.
«Sie weiß, dass sie beobachtet wird», folgerte Wust.
«Natürlich weiß sie es. Sie hat ihre Mutter durch einen furchtbaren Unfall verloren. Sie traut der Welt, sich selbst und ihren Wahrnehmungen nicht mehr. Aber sie ist nicht blöde», dozierte Professor Ullrich.
Plötzlich nahm Vivien ein Handtuch vom Halter, stieg auf einen Stuhl und hängte das Tuch über die Kamera.
«Das war’s wohl», bemerkte Wust.
«Spulen Sie weiter», forderte Ackers ärgerlich. Der Professor schaltete auf Schnelldurchlauf, doch bis zum Ende der Kassette sahen sie nichts mehr.
«Ich fürchte», sagte Ackers, «dieses Video entlastet Ihre Patientin nicht gerade. Man könnte sagen, sie hat sich unseren Blicken entzogen.»
Jetzt wurde Professor Ullrich ungehalten. «Ein junges Mädchen wird die ganze Zeit beobachtet», schnauzte er. «Meinen Sie, das gefällt ihr? Sie hat versucht, sich einen Rest Intimsphäre zu verschaffen. Na und? Was folgern Sie daraus? Dass sie einen Mord begangen hat? Was würden Sie denn tun, wenn Sie den ganzen Tag beobachtet würden? Hätten Sie kein Bedürfnis, sich dem zu entziehen? Sie kommt hier nicht raus!»
Kommissar Ackers hatte inzwischen einiges über die Abläufe hier gelernt. Er erwiderte: «Ich denke, die Türen werden offen gelassen, damit die Patienten sich untereinander treffen können. Sozialraum nennen Sie das doch. Diese verqualmte, stinkige Ecke, in der die Kontakte stattfinden sollen.»
«Ja, sicher», sagte der Professor. «Aber das Gebäude kann niemand verlassen. Versuchen Sie es doch mal! Wenn Sie es schaffen, ohne die Hilfe einer Schwester oder eines Pflegers hier herauszukommen, gebe ich eine Kiste Champagner aus.» Er zog einen Plan des Gebäudes aus seiner Schreibtischschublade und zeigte auf die verschiedenen Türen und Sicherungen. «Selbst wenn die Patienten aus der Geschlossenen herauskönnten -, ich sage: selbst wenn -, müssten sie drei weitere Schleusen überwinden. Das ist unmöglich. Uns ist noch nie jemand weggelaufen. Man braucht einen Spezialschlüssel, um hier rein- oder rauszukommen.»
Ackers nickte. «Ich will eine Liste aller Leute, die so einen Schlüssel haben.»
Ackers befürchtete heftigen Widerstand seitens des Professors, wenn er das Video verlangte. Er rechnete sich bereits aus, wie lange es dauern würde, von der Staatsanwaltschaft die nötigen Papiere abzeichnen zu lassen, um die Kassette zu beschlagnahmen. Doch Professor Ullrich überließ sie ihm mit großzügiger Geste.
«Wenn es Sie glücklich macht», sagte er, «bitte schön.»
17
Vivien saß barfuß an ihrem Schreibtisch, die Beine an den Körper gezogen, die Füße auf dem Stuhl. Sie schrieb an ihrem Thara-Roman. Aber es kam ihr nicht so vor, als ob sie schreiben
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