Karma-Attacke (German Edition)
würde, sie empfand sich eher als Lesende. Vielleicht waren die ersten Bilder und Szenen aus ihrer Erinnerung aufgestiegen, vielleicht waren es wirklich Fantasiegebilde. Doch hier, auf dem Papier, nahmen sie Gestalt an, entwickelten sich, erzählten ihre Geschichte. Vivien schaute nur dabei zu. Gerne hätte sie die Handlung verändert, aber es gelang ihr nicht. Fast ohnmächtig sah sie dem Filzstift zu, wie er über die Seiten ihrer China-Kladde sauste. Sie registrierte, dass ihre Hand einige Worte falsch schrieb, und ließ es einfach geschehen. Es waren kurze klare Sätze. Nur selten ein Komma.
Ich bin es nicht, die hier schreibt, dachte Vivien. Es ist Uta, die mir diktiert.
Gut, dass Josch da ist. Er hat mich aus dem Ata-Knochenkäfig befreit. Josch sagt, ich soll essen. Der Weg durch die Schneeberge ist gefährlich. Nicht mal die Hillrucs trauen sich hierhin. Hier jagen die Atas. Josch sagt, er kann die Atas riechen. Josch ist ein Heiler. Mit seinen Händen kann er Wunden schließen. Josch ist gut zu mir. Trotzdem nehme ich mich in Acht vor ihm. Ich weiß nicht, was Josch von mir will. In seiner Stimme liegt etwas, das mir Angst macht. Manchmal klingt sie wie die von den Hillrucs. Josch versteht ihre Sprache. Sie reden mit ihm. Aber wenn seine Stimme diesen Klang kriegt, könnte ich schreien.
Professor Ullrich betrat leise den Raum. Er wusste, in welchem Zustand Vivien sich jetzt befand. Sie war in ihr altes Leben auf Thara hineingerutscht und wurde jetzt von furchtbaren Erinnerungen überflutet. Das hier war keine von ihm geleitete Rückführung, sondern Vivien war unwillkürlich dem ausgesetzt, was ihre Seele an Bildern freigab.
Er stand hinter ihr und las ihren Text mit. Aber heute war er nicht gekommen, um etwas über Thara zu erfahren. Er konnte sich jetzt nicht mit diesen jahrtausendealten Geschichten beschäftigen. Man würde ihm Vivien wegnehmen, wenn er nicht aufpasste. Was, wenn sie vor Gericht befragt wurde? Was, wenn sie einen Gutachter einsetzten? Natürlich könnte er sich selbst als Gutachter zur Verfügung stellen. Doch das Gericht würde garantiert ein zweites Gutachten anfordern. Bei dem Gedanken, dass einer dieser hirnlosen Neurologen oder Freudianer an Vivien herangelassen würde, empfand er blanken Hass.
Er brauchte das Polaroidfoto. Vivien sollte nichts besitzen, wovon er nichts wusste. Für ihn war es eine persönliche Kränkung, dass sie das Handtuch über die Videokamera gehängt hatte. Sie wollte sich damit bewusst seinen Blicken entziehen. Er fühlte sich erniedrigt. Vorgeführt. Hintergangen. Wie oft hatte er sie gerettet, wenn ihre Erinnerungen sie an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten? Er wusste, dass er keine Dankbarkeit erwarten konnte, aber er wünschte sie sich trotzdem.
Ihr Verhalten hatte sicher etwas mit diesem Foto zu tun. Es ragte unter ihrer Kladde hervor. Vielleicht war sie tief genug versunken, und er konnte das Foto herausziehen. Vielleicht würde sie aber auch vor Schreck einen Schreikrampf kriegen.
Ullrich atmete tief durch und sprach Vivien dann mit seiner ruhigen, hypnotischen Stimme an: «Wo bist du?»
Ihre Haltung hatte etwas Vogelartiges an sich. Eulenhaft. Als warte sie auf eine gute Gelegenheit loszuflattern.
«Auf Thara.»
Die Antwort kam, ohne dass sie zu ihm aufblickte. Ihre Hand schrieb weiter, die Augen verfolgten die Schrift.
«Ist ein Hillruc hinter dir her?»
«Ja. Toi.»
«Unter deinem Buch liegt ein Foto. Darf ich es haben?»
«Foto?»
Vivien schaute ihn immer noch nicht an, doch der Klang ihrer Stimme machte klar, dass sie keine Ahnung hatte, was ein Foto war. Sie kannte das Wort nicht einmal.
Vorsichtig, ohne ihr zu nahe zu kommen, versuchte Professor Ullrich, das Polaroidfoto mit den Fingerspitzen unter der Kladde hervorzuziehen.
Josch sieht mich an wie ein Hillruc. Er will mich auch besitzen. Aber er wird mich nicht fressen. Er ist mein Retter. Er wird mir die Geheimnisse seiner Magie verraten. Ich soll seine Schülerin werden. Eine Heilerin.
Professor Ullrich konnte zwei Drittel von dem Foto schon erkennen. Ein junger Mann mit einem Gewehr. Er zielte. Ullrich wusste, dass dies ein übliches Kirmesfoto war, wie sie hundertfach am Schießstand durch einen Treffer gemacht wurden. Trotzdem hatte er das Gefühl, der junge Mann zielte auf ihn. Fast wäre er in Deckung gegangen.
Während er Millimeter für Millimeter das Polaroidfoto hervorzog, veränderte sich fast unmerklich Viviens Körperhaltung, als erspähe ein Raubvogel ein
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