Karma Girl
Mutter wurden riesengroß, doch sie riss sich sofort zusammen.
»Ja«, sagte sie mit Nachdruck und legte ihren unange bissenen Keks beiseite. »Das war nur eine Phase. Was mich wirklich interessierte, war Medizin. Und das habe ich dann auch weiterverfolgt. Ich habe mich dafür ent schieden .«
»Du hast getanzt, Mama?«, fragte ich aufgeregt.
Doch sie antwortete nicht.
»Ob sie getanzt hat?«, platzte es aus Radha heraus. »Ob sie getanzt hat? Dimple, Schätzchen, deine Mutter war seinerzeit eine echte Tanzmaus, die allerhand Preise und Pokale eingeheimst hat!«
»Indischer Tanz?«
»Nicht nur. Sie konnte alles: Foxtrott, Walzer, was du willst. Aber größtenteils tanzte sie indisch, das stimmt.«
»Papa, wusstest du das?«
»Natürlich! Was meinst du, warum ich mich in diese Frau verliebt habe?«
»Ja, aber … warum weiß ich davon nichts? Warum erzählt denn niemand davon?«
»Ach, da gibt's nichts zu erzählen«, meinte meine Mutter. »Das ist viel zu lange her.«
»Es ist nie zu spät«, sagte Radha. »Nicht für jemanden, der so talentiert ist wie du.«
»Doch, manchmal ist es zu spät«, sagte meine Mutter dermaßen rigoros, das Radha sich auf die Lippe biss.
Meine Mutter war jetzt so nervös und unruhig, dass sie wild umherblickte und, wie oft bei solchen Besuchen, mit den Augen am Klavier hängen blieb. Alle folgten ihrem Blick, und schon wurde die gefürchtete Frage gestellt:
»Spielst du Klavier, Dimple?«, fragte der Durch schnittsjunge und Computer-Spack, der ganz offensichtlich auch noch die Gabe zu haben schien, genau das Falsche zu sagen. Er stand auf und setzte sich ans Kla vier.
»Ja«, sagte meine Mutter, die sich nun an jeden Strohhalm klammerte, und zwar genau in dem Moment, als ich »Nein!« schrie.
»Natürlich spielst du Klavier«, entrüstete sich meine Mutter. »Nach all dem Geld, das wir Mrs Lamour für die Stunden gezahlt haben. Komm schon, spiel uns doch was vor.«
Mir brach der Schweiß aus. Ich hatte doch nur zwei Jahre lang Unterricht bei besagter Mrs Lamour – und das war schon fünf Jahre her!
»Ich mag dieses ›Frühe Elise‹ gern«, verkündete mein Vater strahlend.
»Ich glaube wirklich nicht, dass das so eine gute Idee ist«, sagte ich und betonte dabei jedes einzelne Wort für den Fall, dass meine Eltern plötzlich kein Englisch mehr verstanden, was manchmal in Unterhaltungen wie diesen vorkam (sprechen konnten sie es dann zwar noch, aber eben nicht mehr verstehen).
»Ach, komm schon Dimple, sei so gut«, sagte mein Vater.
»Selbst wenn ich wollte, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern«, sagte ich.
»Ja, aber sind die Noten denn nicht im Hocker?«, fragte meine Mutter. »Karsh, kannst du bitte mal nachsehen, Beta?«
Karsh stand auf, öffnete den Klavierhocker einen Spalt und lugte hinein.
»Nein«, sagte er seufzend. »Schade, der ist leer.«
»Leer? Bist du sicher?«
»Hundertpro«, sagte er, machte die Klappe vorsichtig wieder zu und setzte sich drauf. Puh!
»Kannst du denn spielen, Karsh?«, fragte mein Vater nun.
»Ich weiß nicht«, sagte Karsh.
»Wie bitte?«
»Na ja, ich hab's noch nie probiert, deshalb weiß ich nicht, ob ich spielen kann oder nicht.«
Oh Mann, was für ein Klugscheißer! Aber nun stand ich wenigstens nicht mehr im Rampenlicht, also ließ ich das noch mal durchgehen.
»Karsh kann nicht Klavier spielen«, sagte Radha. » Noch nicht. Aber er spielt Tablas, Harmonium, Flöte und ein bisschen Bass, stimmt's, Karsh? Und er hört sich gern meine indischen Schallplatten an.«
Ging's noch?! Dieser Durchschnittsfuzzi hörte sich auch noch die Schallplatten seiner Mutti an!
»Also das ist für mich einfach das Tollste«, laberte Karsh. »Wenn sich die Nadel aufs Vinyl senkt, es dann erst knistert und dann – Bumm! – die Musik losgeht!«
Dann heirate doch deinen Plattenspieler, dachte ich.
Nach einer erneuten kurzen Stille kam mein Vater, der ein paar Sekunden zuvor aus dem Zimmer gedüst war, wieder zurück. Er hielt einen großen Pappkarton in den Armen.
»Das ist einfach klasse!«, jubelte er. »Ich habe meine alten Platten sofort wiedergefunden! Möchtest du sie dir mal ansehen, Karsh? Da ist alles Mögliche dabei.«
»Liebend gern!«, rief Karsh und half meinem Vater, den Karton abzustellen.
Die zwei setzten sich im Schneidersitz auf den Fußboden. Mein Vater sah plötzlich zwanzig Jahre jünger aus, und nun begann ein enthusiastisches Gespräch darüber, welche indischen Lieder sie am liebsten mochten und
Weitere Kostenlose Bücher