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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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verirrte Geister durch die engen Straßen; manchmal trafen sie auf Leute der
plündernden Mannschaft, die betrunken in der Straßenmitte einhertorkelten und
irgendwelche Kleiderfetzen in der einen Hand trugen, das Messer in der anderen.
Manche hatten an Kreuzungen Feuer angezündet und wärmten sich daran.
    Wo immer sie auf die Männer trafen,
wichen sie ihnen aus und steuerten auf Umwegen den ehemaligen Südrand der
Lagune an, an dem Beatrices Wohnblock hoch gegen den Himmel ragte. Die
Dachwohnung schien in den Sternen zu liegen, sie war von unten gar nicht mehr
zu erkennen.
    »Die ersten zehn Stockwerke wirst du zu
Fuß gehen müssen«, sagte Kerans zu Beatrice. Er wies auf den Sandhügel der sich
bis zum fünften Stockwerk türmte, Teil des unendlichen Massivs koagulierten
Schlamms, der jetzt die Lagune umgab und einen undurchdringlichen Deich gegen
die sich heranwälzenden Meereswogen bildete. In den Nebenstraßen sahen sie eine
Schlammauer, die sich über die niedrigen Dächer erhob. Der Schlamm drang in
alle Ritzen der geborstenen Gebäude, die ihrerseits zur Festigkeit dieses Damms
beitrugen.
    Plötzlich sahen sie das Planetarium
vor sich – Kerans hielt unwillkürlich inne, und auch Bodkin blieb wie erstarrt
stehen, die Hand auf seinem Arm. Im aufblitzenden Schein der Leuchtraketen hob
sich die dunkle Kuppel gegen den Himmel ab. Kerans ging weiter, hielt genau auf
das Planetarium zu, sein Pantheon, Zentrum und Ausgangspunkt so vieler
Schrecken und Rätsel.
    Vor dem Eingang lagen halbtote
Schwämme und roter Tang, die Algengirlanden, die sich um den Kuppelrand
geschlungen hatten, hingen jetzt schlaff die Fassade hinunter, sie sahen aus
wie Fetzen einer Markise. Kerans schob das Zeug vom Eingang weg und sah dann
vorsichtig ins dunkle Foyer hinein. Drinnen lag eine dicke Schlammschicht,
Luftblasen stiegen zischend aus verendenden Meerestieren auf; kein samtener Wandbelag
war mehr zu sehen, nur Pflanzenreste hingen wie ein zerfetztes Bahrtuch von
allen Mauern. Die Schwelle zum Heiligtum war zur Öffnung einer Abwässergrube
geworden.
    Kerans ging hinein, er erinnerte sich
des geheimnisvollen Zwielichts unter der Kuppel, der fremdartigen Sternzeichen.
Dann spürte er das schlammige Wasser unter seinen Füßen durch den Sand rieseln,
und das Planetarium kam ihm plötzlich vor wie ein langsam verendender Wal. Er
nahm Beatrices Arm und führte sie hinaus auf die Straße. Er zwang sich zu einem
Lachen. »Strangman würde sicher behaupten, der Selbstmörder soll nie zum Tatort
zurückkehren.«
    Bei dem Versuch, eine Abkürzung zu
machen, kamen sie in eine Sackgasse; ein kleiner Kaiman stieß aus einer Pfütze
auf sie los, zwischen rostenden Autokarosserien hin und her rennend, gewannen
sie die offene Straße, den Kaiman immer noch auf den Fersen. Bei einer Laterne
hielt er an, sein Schwanz peitschte hin und her, die Kiefer öffneten und
schlossen sich. Kerans zog Beatrice hinter sich her; Bodkin rutschte plötzlich
aus und fiel in eine Sandbank.
    »Alan, rasch!« schrie Kerans und
wollte ihm helfen. Der Kopf des Tieres bewegte sich auf sie zu; offensichtlich
war es bei der Jagd vergessen worden und, völlig verschreckt, bereit alles und
jeden anzugreifen.
    Im gleichen Augenblick ertönten
Gewehrsalven, Flammenschein blitzte über die Straße. Männer erschienen an der
Ecke, angeführt von einer weißgekleideten Gestalt, Strangman, ihm zur Seite der
Admiral und Cäsar.
    Strangmans Augen glitzerten. Er
verbeugte sich leicht vor Beatrice und grüßte dann Kerans. Der Alligator lag
mit zerschmettertem Rückgrat in der Gosse, den gelben Bauch nach oben gedreht,
sein Körper zuckte hilflos hin und her. Der Große Cäsar zog seine Machete und
begann auf den Kopf einzuhacken.
    Strangman sah ihm sichtlich
begeistert zu. »Scheußliche Bestie«, sagte er, zog dann ein riesiges
Straßgeschmeide aus seiner Tasche, noch algenverkrustet, und hielt es Beatrice
entgegen.
    »Für Sie, meine Liebe.« Er schlang es
ihr geschickt um den Hals und betrachtete sie erfreut. Die Algenfäden zwischen
den Strängen ließen sie wie eine Meerjungfrau erscheinen. »Und alle Juwelen
dieses toten Meeres dazu«, rief er und war schon wieder auf dem Weg, inmitten
seiner lärmenden Männer; die drei blieben allein zurück, mit den Juwelen und
dem kopflosen Untier.
    In den folgenden Tagen wurde alles
noch viel verrückter. Kerans kannte sich überhaupt nicht mehr aus, einsam
wanderte er nachts durch die dunklen Straßen – tagsüber war es in

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