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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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dem
Straßenlabyrinth unerträglich heiß –, er konnte sich von den Erinnerungen an
die alte Lagune nicht losreißen.
    Nach dem ersten Staunen über die
Trockenlegung sank er rasch wieder in seine untätige Haltung zurück; trotz
aller Anstrengungen gelang es ihm nicht, sich daraus zu lösen. Irgendwie war
ihm klar, daß die Lagune einen Komplex neuronischer Bedürfnisse erfüllt hatte,
die er anders nicht befriedigen konnte. Seine abstumpfende Lethargie vertiefte
sich, selbst die Gewalttätigkeit rings um ihn konnte sie nicht durchbrechen, er
fühlte sich immer mehr wie ausgesetzt in einem Meer der Zeit, von Unmengen
nicht zusammenpassender Realitäten aus Millionen Jahren bedrängt.
     
    Das Dröhnen der großen Sonne
übertönte beinahe den Lärm der beutegierigen, jubelnden Räuber, die Explosionen
und Schüsse. Wie ein Blinder stolperte er zwischen Arkaden und Eingängen hin
und her, im einst weißen, jetzt völlig befleckten Anzug, ließ sich von den
Matrosen verhöhnen und auf die Schultern schlagen. Um Mitternacht wanderte er
mitten durch die lärmenden Sänger auf dem Platz und saß bei den Parties neben
Strangman, den Rücken im Schatten des Schiffes, sah den Tänzen zu und hörte die
Trommeln und Gitarren.
    Er hatte jeden Versuch aufgegeben, in
sein Hotel zurückzukehren – die Pumpstationen waren im Weg, und eine Lagune
voller Alligatoren –, und schlief tagsüber auf dem Sofa in Beatrices Wohnung
oder saß still in einem Alkoven des Speisesaals im Schiff. Die Matrosen
schliefen meist zwischen den Kisten oder stritten über ihre Beute, sie warteten
stets voll Ungeduld auf die Dämmerung und ließen ihn in Frieden.
Merkwürdigerweise war es für ihn sicherer, sich in der Nähe Strangmans
aufzuhalten, als sich zu separieren, wie er es vorher getan hatte. Bodkin
versuchte es weiterhin, er zog sich in die Teststation zurück (die jetzt nur noch
über eine steile beschädigte Feuerleiter zu erreichen war); einmal, als er
nachts im Universitätszentrum herumging, war er von einer Gruppe Matrosen böse
mißhandelt worden.
    Kerans raffte sich auf, Bodkin zu
besuchen, der in seiner Koje lag und versuchte, sich durch einen selbstgebauten
Ventilator und die immer schwächer werdende Klimaanlage Kühlung zu verschaffen.
Auch er schien auf einem winzigen Flecken in einem riesigen Meer von Zeit zu
vegetieren.
    »Robert«, flüsterte er – seine Lippen
waren ganz geschwollen – »schauen Sie, daß Sie hier wegkommen. Nehmen Sie das
Mädchen mit –« er suchte nach dem Namen – »Beatrice meine ich, suchen Sie eine
andere Lagune.«
    Kerans nickte. Er hockte sich, so gut
er konnte, in den schmalen Kegel kühler Luft unter der Klimaanlage. »Ich weiß,
Alan, Strangman ist verrückt und gefährlich, aber ich kann einfach noch nicht
los von hier. Ich weiß selbst nicht, warum, aber es hält mich etwas, irgend
etwas in diesen nackten Straßen. Irgend etwas lastet auf mir, das muß ich erst loswerden.«
    Bodkin setzte sich mühselig auf.
»Kerans, reden Sie mit ihr und gehen Sie von hier weg. Hier gibt es keine Zeit
mehr.«
     
    Unten im Labor war alles von braunem
Schlamm überzogen. Kerans fing an, ein paar der zu Boden gefallenen
Aufzeichnungen aufzuheben, ließ es aber bald wieder sein und wusch dann in
einem Restchen Wasser in einem Becken eine Stunde lang seine Jacke aus.
    Einige von der Mannschaft trugen
jetzt auch Abendjacken und schwarze Krawatten – in einem Lagerhaus hatten sie
Unmengen Abendkleidung in wasserdichter Verpackung entdeckt. Strangman
ermunterte die Leute, sich damit aufzutakeln, und ließ sie in wilden Tänzen
durch die Straßen toben, wie eine Truppe verrückter Kellner bei einem Karneval
der Derwische.
    Nach den ersten Exzessen wurde die
Plünderei ernsthaft und gezielt betrieben. Aus irgendwelchen Gründen war
Strangman nur an Kunstgegenständen interessiert. Als er endlich das wichtigste
Museum entdeckt hatte, stellte er zu seinem größten Ärger fest, daß es bereits
leer war; die einzige Beute war ein Mosaikboden im Foyer, den er Fliese um
Fliese abtragen und wie ein überdimensionales Puzzlespiel an Deck ausbreiten
ließ.
    Kerans vermutete, daß Strangman für
diese Enttäuschung an Bodkin Rache nehmen würde, und wollte den alten Mann
warnen. Als er jedoch abends zu ihm hinaufkletterte, fand er das Nest leer. Die
Klimaanlage war endgültig außer Betrieb, und Bodkin hatte offenbar vor dem
Weggehen absichtlich alle Fenster geöffnet – es war drinnen heiß wie in

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