Karneval der Toten
vertraulich, hielt er dabei die Hände gefaltet und knetete die Finger. »Ich konzentrierte mich auf die Grotte, ich dachte, hier ließe sich am ehesten jemand packen, weil sie nicht unmittelbar einsehbar ist. Sie erinnern sich – es geht drei oder vier Stufen hinunter...« Er ließ die Finger über den Tisch wandern und ahmte die Schritte nach. »An der Grotte war Mary Scott kurz zuvor vorbeigekommen. Ich habe jedenfalls meine eigene Theorie.«
»Und?« Jury verputzte den letzten Eierrest.
»Es waren bloß ein paar Minuten verstrichen. Mary war kurz davor noch mit Flora zusammen gewesen, hatte sie bei der Grotte gesehen. Als sie sich aber umdrehte, merkte sie, dass Flora nicht da war, und rannte zurück. Ich glaube, der Täter war mit Flora in der Grotte und hatte sie entweder betäubt oder hielt ihr den Mund zu, damit sie still war.«
Jury runzelte die Stirn. »So tief, dass man dort jemanden verstecken könnte, ist die Grotte doch gar nicht, oder? Was meint Macalvie dazu?«
Cody lehnte sich seufzend in die Sitzbank zurück. »Der Chef würde Ihnen zustimmen, er glaubt, man hätte sie sehen können. Nicht unbedingt, sagte ich zu ihm, nicht, wenn die Mutter vorbeirannte. Der Dreckskerl hätte Flora auch einfach anders anziehen können, ich meine, sie in einen anderen Mantel stecken, ihr irgendwas anderes überziehen.«
Jury legte die Gabel aus der Hand. Er hatte immer noch Hunger. Er schob seinen Teller weg und überlegte, ob er noch etwas bestellen sollte. Seine Kaffeetasse war fast voll. Jetzt fehlte ihm nur noch eine Zigarette. Die Vorteile des Nichtrauchens hatten sich ihm nie erschlossen. Wenn man auf die Sprüche der Nichtraucher-Lobby hörte, weiteten sich angeblich die Lungen, der Duft von Rosen und Veilchen würde intensiver, der Geschmack von Pfefferminz schärfer, die Luft sauberer, der Regen kristallklarer, und die Gefilde der Seligen würden seliger. Und die Wolken wahrscheinlich bauschiger. Der einzige Gewinn, den er selbst bezeugen konnte, war, behaupten zu können, dass man sich fortan nicht mehr mit Nikotin umbrachte. Das war zwar nicht unwichtig, aber einfach abstrakt. Und seit wann, fragte er sich, war er eigentlich so versessen auf derart kreatürliche Freuden?
»Rauchen Sie?«
»Was? Rauchen? Nein. Vor ein paar Jahren habe ich aufgehört.«
Jury machte fast einen Satz vorwärts. »Furchtbar, nicht?«
Cody sah ihn verständnislos an. »Eigentlich nicht. Nach ein paar Wochen habe ich kaum mehr was gemerkt.« Er zuckte die Achseln. »Wieso?«
Jury lehnte sich in die Sitzbank zurück. Schachmatt. Wie war einem Menschen zu trauen, der mit dem Rauchen aufhörte, ohne das große Zittern zu kriegen, der sich zu seinem Tee eine einfache Portion Toast bestellte? Sergeant Wiggins würde man nicht dabei ertappen, wie er an einem Stückchen Toast knabberte, ohne einen tüchtigen Schlag Bohnen drauf. Niemals. War Cody Platt etwa die Speerspitze eines ganz neuen Menschenschlags, der sich schneiden konnte, ohne zu bluten? Wer schaffte es denn, schlechte Angewohnheiten aufzugeben, ohne dass einem zumindest ein wenig etwas fehlte? Wetten, dass Cody morgens in aller Frühe im Sportstudio auftauchte, um seine hundert Liegestütz und eine Stunde auf dem Stepper zu absolvieren, um dann in liegender Position noch siebenhundert Pfund Gewichte zu stemmen und dabei einen Ball auf den Zehen zu balancieren, auf dem ein Hund saß.
Na, na, jetzt aber mal halblang, schalt Jury sich selbst. »Hatten Sie mit den Scotts denn nach dieser Suche noch Kontakt?«, fragte er.
»Mit Mary – mit Mrs. Scott – ja, schon irgendwie. Mit ihr bin ich in Kontakt geblieben.«
Jury fiel auf, dass er sich beim Vornamen gleich korrigiert hatte. Im Verlauf des Gesprächs hatte Cody sie immer wieder Mary genannt. Was hatte das zu bedeuten?
Cody erzählte weiter. »Ich habe nie eine Frau gesehen, die so am Boden zerstört war. Weil sie sich selber die Schuld gab, als hätte sie ihre Tochter ständig an der Hand halten sollen, aber das geht ja gar nicht, oder? Man kann sein Kind doch nicht auf Schritt und Tritt festhalten.«
»Nein, das kann man nicht. Welche Art von Kontakt hatten Sie denn zu Mary Scott?«
»Ich war mit ein paar anderen für das Haus eingeteilt. Sie wissen schon – wenn nach einer Entführung die Anrufe überwacht werden, während man wartet, dass der Scheißkerl anruft. Ich hatte aber keinen Telefondienst, ich war Mädchen für alles, habe Kaffee gekocht und Botengänge erledigt. Sogar die Köchin war vollkommen
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