Karneval der Toten
ganz ähnliche Weise aufmerksam beobachtet wie er in diesem Augenblick ebenfalls, und zwar von einem etwa sieben- bis achtjährigen kleinen Mädchen mit mausfarbenem Bubikopf und rosa Jeanshose. Sie hatte sich in dieser typischen akrobatischen Stellung, wie sie nur Kinder zustande bringen, in einen der weichen Sessel gekuschelt.
Nach einer Weile stand sie auf und stellte sich unter dem Vorwand, ein anderes Buch auszusuchen, neben Melrose, um mit dem Finger über die Rücken der ihm am nächsten stehenden Bücher zu fahren.
Es war Melrose bislang nie gelungen, genau zu ergründen, weshalb er diese Wirkung auf Kinder ausübte. Sie war anders als Richard Jurys Wirkung. Nein, für Jury würden Kinder sich in brennende Gebäude stürzen. Für Melrose würden sie sich nicht einmal die Mühe machen, ein Streichholz auszupusten. Irgendwie entdeckten sie bei ihm ihre kämpferische Ader. Für Jury konnten sie gar nicht genug tun. Melrose konnten sie gar nicht genug antun .
Die Kleine, mit einer Haut wie Zuckerwatte und riesengroßen braunen Augen, zupfte ihn am Ärmel und sagte: »Ich glaub, Sie haben mein Buch.«
Er sah zu ihr hinunter. »Dein Buch? Ich glaube, das« – er klappte die Innenseite um – »gehört der Bücherei. Nicht dir. Du hast kein exklusives Anrecht darauf.«
»Ich wollte nur sagen, das hab ich gerade gelesen.«
»Ach, wirklich ? Wie viel hast du denn gelesen?«
»Die Hälfte.«
»Die Hälfte?« Melrose konsultierte eine Seite etwa am Anfang, auf der Debbie zu sehen war, wie sie mit ihrem Hund Boots ein Loch grub. »Wie heißt denn ihr Hund?«
Sie verzog den Mund und überlegte. »In dem Teil, den ich gelesen hab, war gar kein Hund.«
»Du sagtest doch die Hälfte , oder?« Er wollte schon höhnisch lächeln, beschloss aber dann, sich wie ein Erwachsener zu benehmen.
»Genau. Aber nicht die Hälfte. Ich hab bis zu dem Hund gelesen und dann nach dem Hund. Aber den Teil mit dem Hund hab ich nicht gelesen.«
Etwas verschnupft wollte er wissen: »Wie heißt du?«
Sie ließ den Blick von ihm zu dem Buch schweifen. »Debbie.«
Er seufzte. Natürlich!
»Ich hab heute Geburtstag.«
»Ach ja? Na, so was. Wie alt bist du denn?«
»Siebeneinhalb.«
»Das geht nicht, weil es keine halben Geburtstage gibt.«
Ihr Blick kratzte ihm wie eine Bürste übers Gesicht. »Ich hab jedes halbe Jahr einen.«
»Ach, das ist doch lächerlich.«
»Stimmt aber. Weil ich nämlich mal ganz schlimm krank war, und da hatte ich meinen Geburtstag früher, falls ich gestorben wär.«
»Du schreckst wohl vor nichts zurück, nur um dieses Buch zu kriegen, was? Wenn ich es dir weiter vorenthalte, schmeißt du dich wahrscheinlich auf den Boden?«
Den Vorschlag zog sie zweifellos in Betracht.
»Nein, spar dir die Mühe. Hier hast du es.« Er hielt es ihr hin, denn er hatte ein anderes Exemplar von Die dreckige Debbie erspäht und zog es aus dem Regal. »Und ich nehme mir dieses.« Er drehte sich um und marschierte mit Debbie im Schlepptau in den kleinen Caféraum der Bücherei hinüber. Am Eingang sah er sich um. »Wo gehst du hin?«
»Ich möchte ein Rosinenbrötchen.«
»Und du meinst, ich kaufe dir eins?«
Sie nickte. »Ich hab doch heute Geburtstag, und zum Mittagessen hab ich auch noch nichts gekriegt.«
»Ist das etwa meine Schuld? Beschwer dich bei deiner Mum.«
»Kann ich nicht.«
Nun war sich Melrose zwar der Regel bewusst, die Anwälte vor Gericht befolgten, wenn sie Zeugen vernahmen: Stelle nie eine Frage, auf die du nicht die Antwort weißt. Diesen weisen Ratschlag beiseite wischend, fragte Melrose: »Und wieso nicht?«
»Mum – liegt im Sterben.«
Melrose schloss die Augen und fragte sich, was er hier eigentlich suchte, wo doch (apropos Tod) die Fahrt über den Styx, jenes vergnügliche Stündchen, längst auf ihn warten konnte. Debbies Zögern bei der Mitteilung dieser traurigen Tatsache war ihm aufgefallen. Sie schniefte, doch er wusste, dass dies kein Vorspiel zu Tränen war. Er bezweifelte, dass dieses Kind sich zu derart billiger Gefühlsduseligkeit herablassen würde. Sie würde vermutlich eher lügen.
»Na gut, dann komm mit.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, während sie sich an die Theke zu der freundlichen älteren Dame begaben, die Kaffee und Gebäck servierte. Mrs. Kimble, so hieß sie wohl. Er grüßte sie und bestellte einen Latte macchiato. Dann sagte er zu dem Mädchen: »Nimmst du einen doppelten Espresso?«
»Nein. Ich hätte bitte gern eine Limonade.«
»Ist gut,
Weitere Kostenlose Bücher