Karparthianer 01 Mein dunkler Prinz
fühlte wieder, dass die Nacht nach ihr rief.
Ohne darüber nachzudenken, ging sie die Treppe hinunter und begann, den Waldpfad entlangzuwandern.
Die Nacht flüsterte ihr zu und sang zu ihr, lockte sie tiefer in den Wald hinein. Eine Eule zog mit leisem Flügelrau-273
schen ihre Kreise am Himmel. Drei Rehe traten vorsichtig witternd aus dem Unterholz und tauchten ihre samtigen Nasen in den kühlen Bach. Raven fühlte ihre Lebensfreude und ihre selbstverständliche Akzeptanz des täglichen Kampfes ums Überleben. Sie hörte den Saft der Bäume steigen und fallen wie Ebbe und Flut. Wie von selbst schienen Ravens nackte Füße bei jedem Schritt weichen Waldboden zu finden, ohne auf Zweige, Dornen oder scharf-kantige Steine zu treten. Das Rauschen des Wassers, das Flüstern des Windes und der Herzschlag der Erde schienen sie willkommen zu heißen.
Wie verzaubert wanderte Raven ohne Ziel durch den Wald, eingehüllt in Mikhails langen schwarzen Umhang. Ihr Har fiel ihr in einer seidig glänzenden, blauschwarzen Kaskade den Rücken hinunter, und im Mondlicht leuchtete ihre helle Haut beinahe durchsichtig, während ihre blauen Augen dunkel und geheimnisvoll schimmerten. Hin und wieder teilte sich der Umhang und gab für kurze Zeit den Blick auf Ravens wohl geformte Beine frei.
Plötzlich regten sich Empfindungen in ihrem Geist, die die Stille und Schönheit der Nacht störten. Trauer. Tränen.
Raven blieb stehen, blinzelte und versuchte, sich in ihrer Umgebung zu orientieren. Sie war wie im Traum durch den Wald gegangen, wandte sich aber nun in die Richtung, aus der die intensiven Gefühle zu ihr drangen. Automatisch verarbeitete sie die Eindrücke.
Es handelte sich um einen Mann. Er war um die zwanzig Jahre alt. Seine Trauer war tief und ehrlich. Er empfand Wut gegen seinen Vater, Verwirrung und Schuld, weil er zu spät gekommen war. Etwas in Raven reagierte auf sein überwältigendes Bedürfnis nach Trost. Er kauerte an einem dicken Baumstamm am Waldrand, hatte die Knie angezogen und die Hände vors Gesicht geschlagen.
Absichtlich verursachte Raven ein Geräusch, als sie näher 274
kam. Der Mann hob das tränenüberströmte Gesicht, und seine Augen weiteten sich vor Staunen, als er sie entdeckte.
Schnell sprang er auf.
»Bitte bleiben Sie sitzen«, meinte Raven leise. Ihre Stimme klang so sanft und dunkel wie die Nacht selbst. »Ich wollte Sie nicht stören. Ich konnte nicht schlafen und wollte einen Spaziergang unternehmen. Wäre es Ihnen lieber, wenn ich wieder ginge?«
Rudy Romanov blickte starr auf die Traumgestalt, die aus dem Nebel zu kommen schien. Nie zuvor hatte er eine Frau wie sie gesehen. Sie wirkte so geheimnisvoll wie der nächtliche Wald. Ihm stockte der Atem. Hatte seine Trauer die Erscheinung heraufbeschworen? Ihr Anblick ließ ihn beinahe an die Ammenmärchen glauben, die sein Vater ihm erzählt hatte, Märchen von Vampiren und schönen untoten Frauen, die Männer ins Verderben lockten.
Der junge Mann starrte sie an, als wäre sie ein Geist. »Es tut mir sehr Leid«, versicherte Raven und wandte sich zum Gehen.
»Nein, warten Sie!« Der junge Mann sprach mit starkem Akzent. »Als ich Sie so aus dem Nebel kommen sah, wirkten Sie einfach nicht real.«
Raven war sich bewusst, dass sie unter dem Umhang nicht viel anhatte, und zog den schweren Stoff fester um sich.
»Geht es Ihnen gut? Soll ich jemanden für Sie anrufen? Den Priester vielleicht? Oder Ihre Familie?«
»Es gibt niemanden mehr. Ich bin Rudy Romanov. Sie haben sicher vom Schicksal meiner Eltern gehört.«
Eine schreckliche Vision tauchte vor Ravens Augen auf. Sie sah Wölfe, die knurrend und mit glühenden Augen aus dem Wald liefen, angeführt von einem riesigen schwarzen Wolf, der sich auf Hans Romanov stürzte. In den Gedanken des jungen Mannes las sie die Erinnerung an seine Mutter Heidi, die auf ihrem Bett lag, während sich die Finger ihres 275
Mannes um ihren Hals schlossen. Einen schrecklichen Moment lang konnte Raven kaum atmen. Wie musste dieser arme Mann gelitten haben! Beide Eltern waren ihm innerhalb weniger Stunden genommen worden. Sein fanatischer Vater hatte seine Frau ermordet.
»Ich war krank und habe heute zum ersten Mal das Haus verlassen.« Raven trat unter die ausladenden Äste des Baumes, unter dem Rudy saß. Sie konnte ihm wohl kaum die Wahrheit sagen - dass sie in diese schreckliche Angelegenheit verwickelt gewesen war.
Sie erschien Rudy wie ein wunderschöner Engel, der gekommen war, um ihm Trost zu
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