Karparthianer 04 Magie des Verlangens
schwach. »Ich habe erst einer einzigen Seele diese Geschichte erzählt. Ich musste sie einfach Julian erzählen und nun euch. Es tut mir Leid, aber ich habe immer noch das Gefühl, es sei erst gestern gewesen.«
»Manchmal hilft es, über eine schreckliche Erfahrung zu reden«, meinte Savannah. In der Dunkelheit schimmerten ihre großen blauen Augen wie die einer Katze, schön und fremdartig.
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Solange ich nicht darüber sprach, konnte ich mir immer vormachen, es sei nie etwas geschehen. Auch mein Vater hat niemals etwas gesagt, nicht einmal zu mir. Wir wollten wohl beide so tun, als wäre alles nur ein Albtraum gewesen.«
»Die Teenager tranken Alkohol.« Gregori las dieses Detail in Beaus Gedanken.
Der Kapitän nickte. »Wir fanden leere Flaschen im Wasser und am Ufer. Dann hörten wir sie schreien. Es waren keine gewöhnlichen Schreie, sondern die Art, die man nie vergisst, die man im Traum hört, bevor man schweißgebadet aufwacht.
Mein Vater hörte einen Monat lang nicht auf zu trinken, um die Schreie zu vergessen, doch es funktionierte nicht.« Wieder wischte er sich über den Mund. »Bei mir auch nicht.«
Ich möchte es nicht hören, Gregori. Die Erinnerung quält ihn zu sehr, protestierte Savannah und klammerte sich an sein Hemd.
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Gregori strich ihr beruhigend übers Haar. Ich werde seinen Schmerz später lindern. Es ist sehr interessant. In seinen Gedanken spüre ich Julians Anwesenheit, der Beau auch getröstet haben muss.
Warum war Beaus Vater so entsetzt über den Alligator, der Menschen riss? Warum konnte er die Angst vor der Erinnerung nie loswerden? So viele Menschen sind an diesem Ort gestorben, die meisten davon auf grausame Art. Vielleicht ist es notwenig, dass wir diese Geschichte hören.
»Die Insekten krochen auf uns wie eine lebendige Decke. Und wir bekamen kaum Luft.« Beau griff sich an den Hals, als die Erinnerung ihn überkam. »Aber wir konnten nicht einfach umkehren, also bahnten wir uns den Weg durchs Schilf. Wir hatten Schwierigkeiten, obwohl unser Boot viel kleiner war.
Das Wasser in Ufernähe war schwarz und schlammig und stand in einem Tümpel ohne Strömung. Der Gestank war unglaublich, wie ein Schlachthaus voller Kadaver, die in der Sonne verrotteten. Mein Vater wollte, dass ich im Boot am Rand des Tümpels blieb, während er zu Fuß weiterging. Aber ich wusste, dass es sein sicherer Tod gewesen wäre.«
»Oh, Beau«, hauchte Savannah mitfühlend. Die Erinnerung nahm sie fast so sehr mit wie den Kapitän selbst. Sofort tröstete Gregori seine Gefährtin und schirmte sie noch stärker von der Wirkung der Geschichte ab. Sie saugte Beaus Trauma förmlich in sich auf.
»Ich denke, wir fanden uns beide damit ab, dass wir nicht wieder aus dem Sumpf herauskommen würden«, fuhr Beau fort, während er das Boot geschickt um ein Hindernis herum-manövrierte. »Aber wir fuhren weiter. Die Nacht war schwarz, nicht einfach nur dunkel, sondern pechschwarz. Mein Vater zündete die Lampe an, und dann sahen wir sie. Das Boot war zersplittert, und große Stücke fehlten, als wäre es von etwas Riesigem angegriffen worden. Es sank schnell. Ein Junge klammerte sich am Boot fest, aber sein Blut spritzte in einer 356
Fontäne in den Himmel. Wir konnten ihn nicht erreichen.
Etwas tauchte aus dem Wasser auf, den Rachen aufgerissen, das Böse in den Augen. Es war kein gewöhnlicher Alligator. Es machte ihm Spaß, mit den sterbenden Kindern zu spielen.«
Aufgeregt fuhr sich Beau durchs Haar und blickte hinaus auf die vertrauten Wasser. Gregori regte sich und lenkte Beaus Aufmerksamkeit auf seine silbrigen Augen. Sofort fühlte sich der Kapitän ruhiger und konzentriert, beschützt. Die Geschichte, die er erzählte, schien plötzlich ein anderer erlebt zu haben.
Doch dann spürte Gregori eine seltsame Regung in Beaus Geist. Ein trüber Schleier schien sich über seine Gedanken zu legen und eine vorprogrammierte Reaktion auszulösen. Gregori konzentrierte sich und folgte der Spur des Bösen, mit der er so vertraut war. Er erkannte Julians heilendes Eingreifen, die Schutzzauber, die den Schatten des Bösen daran hinderten, sich auszubreiten. Beau LaRue war einem Vampir begegnet. Er mochte davongekommen sein, jedoch sicher nicht unbeschadet.
Savannahs leiser Seufzer verriet ihre Anwesenheit in seinem Geist. Gregori freute sich daran, dass sie so mühelos hinein-und hinausschlüpfen konnte, so sehr ein Teil von ihm, dass er kaum noch wusste, wo er begann
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