Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
wollte ich etwas ganz Besonderes. Als Dankeschön für seine Begleitung, für seine Liebe und sein Verständnis, dass er mich den letzten Teil allein hatte gehen lassen. In einer Auslage für Silberschmuck fand ich dann das Richtige. Ein etwa 15 Zentimeter hohes Kruzifix aus reinem Silber. Das Kreuz mit der Jesusfigur war sehr filigran gearbeitet. Ich war mir sicher, dass Gu sich darüber freuen würde, denn wir beide waren uns unterwegs sicher gewesen, von ihm begleitet worden zu sein.
Immer wieder zog es mich an den restlichen Tagen in die Kathedrale. Morgens nach dem Aufstehen, wenn es dort noch nicht so voll war, nutzte ich die Stille, um einfach nur meinen Gedanken und Gefühlen nachzuspüren. Ich besuchte das Kapitelamt um zehn Uhr, mittags verpasste ich keine Pilgermesse. Zwar verlief diese fast immer nach dem gleichen Ritus, trotzdem war sie die Male, an denen ich teilnehmen konnte, immer ein wenig anders. Ob es an den unterschiedlichen Pilgern und Priestern lag? Zum Teil variierten aber auch die Gesänge. Auf jeden Fall hatte ich in der Messe am Sonntag das Glück, den berühmten Botafumeiro zu erleben, keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein 46 Kilogramm schwerer versilberter Weihrauchkessel, der nur zu besonderen Anlässen oder an hohen Festtagen eingesetzt wird. Mit einer großzügigen Spende, so die Gerüchte, kann man auch als Normalbürger für einen besonderen Anlass sorgen. Er hängt an einem 35 Meter langen Seil und wird von acht erfahrenen Seilziehern, den Tiraboleiros, durch das gesamte Querschiff geschwenkt. Er pendelte über unseren Köpfen hinweg und erreichte dabei eine sehr hohe Geschwindigkeit. Wie ich später las, können es bis zu 65 Stundenkilometer sein. Zweimal ist er sogar schon aus der Kirche hinausgeflogen. Es war schon ein komisches Gefühl, wie der Botafumeiro, von den Deutschen auch gern als Butterfass bezeichnet, über uns hin- und hersauste. Wir waren vorher explizit daraufhingewiesen worden, dass man auf jeden Fall sitzen bleiben muss. Ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen aufzustehen. In früheren Zeiten wurde der Kessel unter anderem auch geschwenkt, damit der starke Schweißgeruch der Pilger erträglicher wurde.
Auf dem Platz vor der Kathedrale traf ich immer wieder Menschen, die mir unterwegs begegnet waren. Paolo, der Italiener mit den Rastalocken, lief mir dort zum Beispiel wieder über den Weg. Wir beide konnten es nicht glauben, dass wir nun voreinander standen. Wir hatten beide nicht mehr damit gerechnet, umso größer die Freude. Ich war einfach gern dort, es war ein Platz der Kommunikation und der Zusammenkunft. Es hatte etwas von früher, als wir auf Klassenfahrt waren, wir uns durch die fremde Stadt treiben ließen und unwillkürlich am belebtesten Ort wieder zusammentrafen. Wie eine Art Happening kam es mir vor, das Alter war bunt gemischt, es umschwirrten mich so viele Sprachen und überall sah ich lauter lachende und zufriedene Gesichter. Kathrin und ich nahmen dort am letzten Tag endgültig Abschied von unserer Pilgerreise, bevor wir gemeinsam zum Flughafen fuhren.
Die meisten meiner Mitpilger waren schon nach Finisterre aufgebrochen. Hans-Jakob, der sich ebenfalls für einen längeren Aufenthalt in Santiago entschieden hatte, und ich zählten zu den wenigen in der Stadt Verbliebenen. Mit ihm und Ute, die erst am Montag nach Finisterre weitergehen wollte, verabredete ich mich zwischendurch auf einen Kaffee oder zum Abendessen. Jedes Gespräch mit ihnen war bereichernd, ich zog daraus oftmals neue Anregungen und Gedanken für meinen Alltag zu Hause. Am Sonntagabend, wir drei waren gemeinsam essen gegangen, unterhielten wir uns über das Thema Familie: Welche Bedeutung hat Familie für uns? Wie viel Einfluss nimmt sie noch, auch wenn man schon erwachsen ist? Kann man sich überhaupt je lösen? Hans-Jakob als ausgebildeter Familientherapeut konnte zu diesen Fragen natürlich viel aus seinem Erfahrungsschatz an uns weitergeben. Doch in erster Linie ging es darum, sich selbst und das jeweilige Familiengebilde zu reflektieren und zu hinterfragen. Mir wurde an dem Abend sehr deutlich, dass große Familien etwas Wunderbares sind, aber auch die Gefahr bergen können, Individualität zu verlieren. So stelle ich zum Beispiel in unserer Familie häufig fest, dass eine Art Kollektivdenken vorhanden ist. Man macht am besten alles gemeinsam, niemand fühlt sich dadurch außen vor. Bestimmte Normen und Regeln werden automatisch, oft nonverbal, von
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