Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
ich auch ohne geregeltes Einkommen eine längere Zeit mein Leben finanzieren. Den Gedanken, in Essen eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, weil Gu dort damals noch sein eigenes Geschäft betrieb, hatten wir ebenfalls schnell beiseitegeschoben, obwohl es für ihn wesentlich bequemer gewesen wäre, als jeden Tag hin- und herzupendeln. Münster ist für uns beide einfach die schönere Stadt, auch ist es seine Heimatstadt. Gu’s Eltern und sein jüngster Bruder leben hier, auch die meisten unserer Freunde, und zu meiner Familie ist es auch viel näher als von Essen aus gesehen. Ich war sehr froh über diese Entscheidung. Nach den letzten, doch sehr gravierenden Veränderungen in meinem Leben war es gut, dass Münster als Wohnort und Lebensmittelpunkt eine vertraute und wichtige Konstante für mich blieb.
Ich war wieder zu Hause. Ich schlief in meinem Bett, unter meinem Oberbett und nicht im Schlafsack. Ich konnte duschen, ohne dass jemand darauf wartete, dass ich fertig wurde. Das Bad war sauber, keine zig Pilger hatten sich vorher dort aufgehalten. Ich konnte in Ruhe auf die Toilette gehen und mich setzen, ohne vorher alles mit Toilettenpapier abzudecken. Endlich konnte ich wieder zum Frühstück leckeres dunkles Brot essen und dazu ausführlich die Tageszeitung lesen. Es war ein schönes Gefühl, meine Bücher um mich herum zu haben, einfach ins Regal zu greifen, um eines auszuwählen. Ich trug frisch gebügelte Kleidung und musste nicht mehr jeden Tag waschen. Ich trug wieder leichte sommerliche Röcke mit Flip-Flops, statt Wanderhosen und schwere Schuhe. Trotz dieser Annehmlichkeiten war es nicht so einfach, sich wieder einzuleben. Fünf Wochen war ich unterwegs gewesen und hatte mich ein Stück weit an das Nomadenleben gewöhnt. Jetzt den Schalter wieder umzulegen, das klappte nicht so mühelos. Immer wieder wanderte ich in Gedanken einzelne Stationen ab. Ich sah die blühenden Mohnfelder vor mir und die Bäume, die sich im Wind bogen. Ich spürte förmlich die Sonne auf meiner Haut, sah die flirrende Mittagshitze vor mir. Die Wälder in Navarra, die Weinberge des Rioja, die unendlichen Stoppelfelder der Meseta und die sanften Bergketten Galiciens zogen an mir vorbei. Die Silhouetten meiner Pilgerfreunde wanderten vor mir her. Oft war da ein seltsames Ziehen in meinem Herzen. Ich war wieder zu Hause, aber mein Herz schien noch in Spanien zu sein. Ich war voller Sehnsucht nach dem einfachen Unterwegssein. Jetzt wartete ein neuer Alltag auf mich. Ein Alltag voll unbekannter Größen.
Vor meiner Abreise zum Jakobsweg hatte ich die vier freien Wochen nach meinem letzten Arbeitstag, die ohne festen und geregelten Tagesablauf waren, aus vollen Zügen genossen. Es hatte keinen beruflichen Stress mehr mit dringenden Telefonaten, wichtigen Entscheidungen und vielen täglichen Pflichten gegeben. Ich war voller Vorfreude auf die Reise gewesen, mit ihr hatte ich ein unmittelbares Ziel vor mir. Nach meiner Rückkehr fiel ich in die gleiche Situation zurück: Ein unstrukturierter, nicht geregelter Alltag wartete auf mich. Allerdings hatte ich nun keine ungewöhnliche Reise in Aussicht, sondern ich hatte für meine weitere berufliche Zukunft wichtige Entscheidungen zu treffen, von deren Richtung ich zwar vage Vorstellungen hatte, aber keine konkrete Bilder vor Augen hatte. Wo nur anfangen und wo aufhören?
Mein Ankommen in meiner gewohnten Umgebung war an diese Gedanken gekoppelt. Es war gut, dass ich durch das Wiedersehen mit meiner Familie, mit Gu’s Familie sowie unseren Freunden immer wieder abgelenkt war. Alle interessierten sich dafür, wie es mir ergangen war. Jeder wollte wissen, was ich erlebt hatte. Immer wieder spürte ich den Respekt, der mir entgegengebracht wurde, wenn ich erzählte, wie lange ich unterwegs gewesen und wie viel Kilometer ich gelaufen war; wie sich so ein Pilgeralltag strukturierte. Zeitgleich mit meiner Rückkehr katapultierte sich das Buch von Hape Kerkeling, in dem er seine Reiseerlebnisse vom Jakobsweg beschreibt, auf Platz eins der Bestsellerlisten. Vorher hatte ich vielen noch erklären müssen, was der Jakobsweg war, jetzt schienen auf einmal alle davon zu sprechen. Pilgern war in aller Munde. Deshalb wurde ich oft sehr eingehend nach meinen Eindrücken und Erfahrungen befragt. Es war schön, die Bilder in mir immer wieder lebendig werden zu lassen. Wohltuend war auch, dass Gu vieles, von dem ich berichtete, durch seine eigene Pilgerschaft gut nachvollziehen konnte. Das einfache, klar
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