Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
Generation zu Generation weitergegeben. Ich nahm mir vor, durch diesen Abend inspiriert, nach meiner Rückkehr stärker in Einzelkontakt mit meinen Eltern und Geschwistern zu treten. Es war doch eigentlich logisch, dass beispielsweise meine Eltern nicht nur Elternpaar, sondern Mutter und Vater, aber auch Helga und Paul waren. Zwei völlig unterschiedliche Menschen. Mit dem Rest meiner Familie war es genau das Gleiche. Natürlich kann man innerhalb eines Familienverbundes ein großartiges Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, dennoch ist jedes Familienmitglied ein Individuum, mit dem man auch einzeln tolle Geschichten erleben kann. Ist es nicht so, dass man oft seine Eltern und Geschwister auch Jahre später noch auf die Rollen, die man ihnen in der eigenen Kindheit zugeschrieben hat, festlegt? Dass man die Entwicklung, die der oder die Einzelne später nimmt, nicht deutlich genug wahrnimmt, weil man immer noch den »Film« der Vergangenheit im Kopf hat? Abende wie diese, an denen ich konkret etwas mitnehmen konnte, machten meine Wanderschaft zusätzlich unvergesslich.
Das galt besonders für meinen letzten Abend in Santiago. Hans-Jakob und ich hatten beschlossen, ihn gemeinsam zu ver-bringen. In meinem Hotel hatten sie mir ein Restaurant empfohlen, in dem wir an einem weiß eingedeckten Tisch Platz genommen hatten. Wir hatten den Abend nach dem ersten Wandertag zusammen verbracht, damals mit Gu, nun aßen wir auch an unserem letzten Tag gemeinsam. Ich hatte mich sehr auf diesen Abend gefreut. In einer kleinen Geschenkboutique hatte ich an diesem Tag ein Kartenset entdeckt, das ich Hans-Jakob zum Dank für seine wunderbare Begleitung schenken wollte. Die Karten zeigten auf der einen Seite die Erde, auf der anderen Seite waren Naturmotive des Jakobsweges sowie Sinnsprüche abgedruckt. Er war berührt und ließ mich sofort eine Karte ziehen, von der er meinte, dass sie mir wahrscheinlich das Richtige spiegeln würde und schenkte sie mir. Auf ihr stand geschrieben: »It’s not your experiences that shape you, but what you make of them«. Ein guter Satz mit viel Wahrheit. Man hat es immer selbst in der Hand, was man mit dem macht, was einem täglich an Erfahrungen begegnet. Wieder sprachen wir über so vieles. Beruf, Familie, Tod, Sterben, Alter, Heirat und Trennung, natürlich über den Camino, aber auch was uns nach unserer Rückkehr erwartete. Wir unterhielten uns über meine Zukunftspläne, als Hans-Jakob erneut auf die Ausbildung am Institut für Familientherapie in Weinheim zu sprechen kam. Er empfahl mir nochmals, mich mit diesem Weg zu beschäftigen, da ich dafür gute Voraussetzungen mitbringen würde. So wie er mich kennengelernt habe, hätte ich eine gute Wahrnehmung für andere Menschen, die aber mit einer guten Portion Distanz gekoppelt sei. Ich war sehr glücklich, dass er dies ansprach, denn mit einem Berufsweg in einer Richtung, in der ich intensiv mit Menschen arbeiten könnte, beschäftigte ich mich schon seit etlichen Tagen. Er bot mir am Ende sogar an, dass er ein Empfehlungsschreiben für mich an das Institut verfassen würde. Ich war sehr dankbar, das hatte ich nicht erwartet. Auf dem Weg zurück zu unseren Unterkünften verweilten wir noch einige Minuten am Praza das Platerías, um zwei Straßenmusikanten zuzuhören. Die beiden spielten galicische Musik, die alle Zuhörer in ihren Bann zog. Sie musizierten mit einem Hauch von Melancholie, dann aber wieder mit einem mitreißenden, aufrüttelnden Rhythmus. Es war ein schöner Abschluss des gemeinsamen Abends, so dachte ich.
Vor meinem Hotel verabschiedeten wir uns mit dem gegenseitigen Versprechen in Kontakt zu bleiben, und einer festen Umarmung. Gerade als ich mich abwenden wollte, sagte er zu mir: »Ich möchte dich gern noch segnen.« Da standen wir nun, vor meinem Hotel in der Rúa do Vilar, ich war völlig überrascht, aber auch unendlich berührt. Jemanden segnen bedeutet, ihm etwas Gutes zu wünschen, ihm Schutz und Segen mit auf den Weg zu geben. Im Lateinischen heißt segnen »benedicere«, über jemanden Gutes (bene) sagen (dicere). Henri Nouwen hat dazu geschrieben. »Wenn man jemanden segnet, heißt das, ihm in höchstmöglicher Form Bestätigung zu schenken.« Ich zitterte innerlich, die Nacht war schon längst hereingebrochen und nur noch wenige Menschen waren in den Gassen, vor mir aber stand Hans-Jakob, einer meiner wichtigsten Freunde auf dem Camino. Und dieser wunderbare Mensch gab mir nun seinen ganz persönlichen Segen. Er
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