Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
zeichnete das Kreuz auf meine Stirn und seine dazu gesprochenen Worte sind auch heute noch ein Schatz für mich. Ja, ich fühlte mich angenommen und bestätigt, aber ich fühlte auch ein ganz besonderes Band der Freundschaft zwischen ihm und mir!
III. Neue Lebenswege
Mehr als zwei Jahre sind nun vergangen, seit ich aus Santiago zurückgekehrt bin. Gu hatte mich am Abend des 27. Juni in Münster vom Flughafen abgeholt. Es war ein seltsames Gefühl, dort anzukommen und statt des Rollkoffers einen Rucksack vom Fließband zu nehmen. Wie oft war ich in der Vergangenheit von einer meiner zahlreichen Geschäftsreisen an diesen Ort zurückgekehrt. Immer wie aus dem Ei gepellt, die Aktentasche in der einen Hand und mit der anderen Hand zog ich einen praktischen Rollkoffer hinter mir her. Jetzt aber kam aus dem Ankunftgate keine müde und gestresste Businessfrau, sondern eine junge 41-jährige Frau, randvoll mit neuen Eindrücken und Erlebnissen. Ich platzte vor Tatendrang, so viele Ideen für meinen neuen Lebensweg waren in meinem Kopf. Wie wahnsinnig freute ich mich auf Gu, der vor dem Gate stehen würde. Unser Wiedersehen hatte ich mir schon in allen Einzelheiten ausgemalt. Diese Angewohnheit hatte ich mir auf meiner Reise nicht abgewöhnen können, obwohl ich oft hatte einsehen müssen, dass die eigenen Erwartungen sich nicht immer in die Realität umsetzen lassen. In Santiago hatte ich mir neue Kleidung gekauft, dort hatte ich ganz günstig einen wadenlangen Rock erstanden, weit schwingend und glockenförmig geschnitten in schwarz mit wollweißer Bordürenstickerei, dazu ein passendes schwarzes Shirt und feminine Schuhe. Ich wollte weiblich und begehrenswert aussehen und nicht mit abgewetzten Wanderklamotten vor Gu stehen. Für ihn wollte ich schön sein. Dann sah ich ihn von Weitem. Er hatte zwar nicht den erhofften Rosenstrauß in der Hand, aber er kam durch die Menschenmenge hindurch mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und umarmte mich minutenlang. Im Auto hielten wir uns an der Hand, redeten wie wild durcheinander oder schauten uns immer wieder nur still an. Ich war wieder zu Hause und das fühlte sich unendlich gut an. Ich hatte zwar keine Blumen bekommen und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Gu in meinem Wanderoutfit genauso gefallen hätte wie in meinem topaktuellen neuen Aufzug, sonst war aber alles so, wie ich es mir erträumt hatte. Gu gab mir das Gefühl, die schönste, begehrens- und liebenswerteste sowie intelligenteste Frau auf unserem Planeten zu sein. Das ist auch heute noch so, für ihn bin ich etwas ganz Besonderes, so wie er für mich. Manchmal frage ich mich schon, ob es diesmal klappen wird. Auch zuvor war ich jedes Mal überzeugt gewesen, den Richtigen gefunden zu haben. Denjenigen, mit dem ich alt werden kann. Was unterscheidet unsere Liebe von denen, an die ich vorher ebenso geglaubt hatte? Gu hat vor einiger Zeit eine ganz einfache Erklärung gefunden, er sagte zu mir: »Ich liebe dich einfach. Es gibt kein Haben- oder Sollkonto. Kein: Das gefällt mir an dir und das gefällt mir nicht. Ich kann alles an dir mit Liebe anschauen, da ist kein Aber.« Es stimmt, ich empfinde genauso. Ich liebe ihn, weil ich ein sehr tiefes Vertrauen zu ihm habe. Das geht so weit, dass ich ihm alle Facetten von mir zeigen kann, ohne Ausnahmen. Er liebt mich so, wie ich bin, mit meinen Stärken, Schwächen und Marotten. Umgekehrt ist es das Gleiche. Unser Zusammenleben ist ein wunderbares Miteinander. Wir verbringen sehr gern Zeit miteinander und haben viele Gemeinsamkeiten. Trotzdem bewahren wir uns auch ein Stück Eigenständigkeit. Wie hat es Alfred Polgar so trefflich ausgedrückt? »In der Liebe ist es besser, nicht - wie die festlich erotische Formel lautet - eins zu werden, sondern zwei zu bleiben.«
Gu’s Unterstützung bei der Suche nach meinem neuen Weg war mir immer sicher. Er bestärkte mich vorbehaltlos darin, meinen Wünschen, Ideen und auch Visionen Raum und Zeit zu geben, um sie wachsen und reifen zu lassen. Sein ideeller Beistand, wenn mich leise Zweifel beschlichen, ob ich alles richtig mache, war etwas ganz Besonderes. Wir waren mittlerweile zusammengezogen, weil wir die gegenseitige Nähe brauchten und wollten. Der Einfachheit halber zog Gu bei mir ein. Für mich bedeutete dies auch, die Miete nicht mehr allein aufbringen zu müssen. Unsere erste Überlegung, eine neue Wohnung zu suchen, hatten wir schnell verworfen. Es hätte nur Kosten verursacht und mit meinen Ersparnissen konnte
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