Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
wir innerhalb unserer Familie vieles erst einmal mit uns selbst abmachen, bevor der Rest eingebunden wird. Hinzu kommt, dass jeder mich für eine starke und unabhängige Frau hält, die zwischendurch zwar zu sehr emotionalen Ausbrüchen fähig ist, die aber dennoch ganz gut allein klarkommt. Gerade in der Zeit, als ich noch bei bianca gearbeitet habe, hätte ich es mir manches Mal anders gewünscht. Damals -ohne einen Partner an meiner Seite - hätte ich mich gern mehr angelehnt. Ich wäre dann lieber Schwester oder Tochter gewesen und nicht die toughe, alles managende Geschäftsleiterin, die sich selbst keine Blöße geben wollte. Wie würden sie mich jetzt wahrnehmen, stellten sie vielleicht Veränderungen an mir fest? Wenn ja, welche? Ich fühlte mich auf jeden Fall sehr viel anders als noch vor einem Jahr. So vieles war passiert, vor dem Weg, auf dem Weg und ich war mir ganz sicher, eine Menge würde sich auch nach meiner Rückkehr noch ändern. Äußerlich wie innerlich war Entscheidendes geschehen. Ich bereute meine Entschlüsse der letzten Monate keine einzige Sekunde und freute mich auf die kommende, noch sehr ungewisse Zeit. Mögliche Perspektiven hatte ich doch schon entwickelt!
Dieser Samstagmorgen mit seiner großen Stille führte dazu, dass ich erneut den Camino Revue passieren ließ und langsam von ihm Abschied nahm. Am Monte do Gozo angekommen, zögerte ich deshalb das Weitergehen hinaus. Von hier war es nur noch eine Stunde bis zur Kathedrale. Ich frühstückte deshalb erst einmal in aller Ruhe unterhalb des riesigen Denkmals, das anlässlich des Weltjugendtages und zur Erinnerung an den damaligen Besuch von Johannes Paul II. 1989 errichtet worden war. Die Stadt war nebelverhangen, sodass ich leider den Moment des für mich höchsten Genusses den Blick auf die Türme des Gotteshauses nicht hatte. - Gozo bedeutet übrigens übersetzt Genuss.
Später in der Stadt ging ich zunächst in eine Bar, obwohl die Kathedrale zum Greifen nah war. Eigentlich kann ich nicht sagen, warum. Wollte ich durch das Hinauszögern den Moment des Ankommens auskosten?
Ich durchschritt die Gasse, die seitlich neben der Kathedrale verläuft, durch einen Rundbogen trat ich auf den Praza do Obradoiro. Die Westfront der Kathedrale mit dem berühmten Pórtico de la Gloria stand in ihrer ganzen Pracht vor mir. Nach 799 Kilometern war ich endlich da, bis auf 90 Kilometer war ich die gesamte Strecke zu Fuß gegangen. Es war ein bewegender Augenblick. Doch bevor ich ihn für mich richtig auskosten konnte, schallte es quer über den fast menschenleeren Platz: »Sabine, Sabine, ciao!« Zwei von den drei netten italienischen Polizisten kamen auf mich zu. Irgendwie war es schön, Weggefährten der ersten Wochen zu sehen, Erinnerungen an die Wanderungen mit Gu kamen hoch. Innerhalb weniger Minuten erzählten wir uns gegenseitig von unseren Erlebnissen aus der Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten. Sie waren sehr schnell angekommen, mit Loredana, Mirella und Walter waren sie sogar schon in Finisterre gewesen. Heute war der Tag ihrer Abreise. Was für ein Zufall, sie hier zu treffen. Sie machten noch ein Foto von mir mit der Kathedrale im Hintergrund, bevor wir uns verabschiedeten.
Kaum waren sie weg und ich im Begriff war, nun endlich die Stufen zum Eingang hochzulaufen, da kamen Sylvia und Peter durch die Gasse auf den Platz. Wir sahen uns fast gleichzeitig und ehe ich mich versah, beschleunigte Sylvia ihre Schritte, kam im Eiltempo auf mich zu und umarmte mich fest. Sie hatten sich Sorgen gemacht, nachdem sie mich am vorherigen Tag nur einmal kurz unterwegs gesehen hatten. Sie freuten sich sichtlich, dass ich angekommen war. Ich genoss es, nun mit den beiden so aufmerksamen und liebevollen Schweizern in die Kathedrale zu gehen. Es war sogar gut, diesen Moment nicht allein verbringen zu müssen. Wir betraten die Kirche über ein Seitenschiff, da der Aufgang über die Treppen zum Hauptportal noch verschlossen war. Das Innere der Kirche war riesig und überwältigend. Plötzlich stand Hans-Jakob vor uns, der früher angekommen war und hier Andacht gehalten hatte. Wir nahmen uns liebevoll in den Arm und freuten uns über die Ankunft des jeweilig anderen. Er zeigte uns den Weg zum Pórtico de la Gloria, damit wir einer alten Pilgersitte folgen konnten. In der Mitte des reichen Säulenaufbaus war der heilige Jakobus dargestellt, über ihm thronend Jesus Christus.
Ich legte meine Hand also in den Abdruck der steinernen Wurzel Jesse
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