Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
mit mittelalterlichem Flair. Wir besichtigten die Kirche, die im Verhältnis zum Ort riesig war. Ihr Portal stand weit geöffnet und wirkte einladend, auch im Inneren war sie wunderschön. In dieser Kirche versammelte sich mit Sicherheit regelmäßig die Gemeinde; sie war liebevoll geschmückt. Auch hier sprachen wir ein Gebet und ließen die Atmosphäre auf uns wirken. Am Dorfbrunnen füllten wir unsere Wasservorräte auf, denn in der Mittagshitze wollten wir auf den letzten Kilometern bis Puente la Reina nicht ohne Wasser sein. Nach einer Tagesetappe von fast 23 km kamen wir müde und verschwitzt dort an. Deshalb blieben wir direkt am Ortseingang in der Herberge Hotel Jakue, froh unsere Rucksäcke für den Tag endgültig los zu sein und eine Dusche nehmen zu können. Das Hotel war zweigeteilt, es gab ganz normale Hotelzimmer und im Keller eine Herberge mit den üblichen Stockbetten. Hier waren sie allerdings in Parzellen aufgeteilt, mehr zum Zweck des Sichtschutzes als zum Lärmschutz. Die Dusche und die Toilette, beides Einzelexemplare, aber immerhin nur für Damen reserviert, waren sauber und ordentlich. Im Aufenthaltsraum gab es sogar Waschmaschine und Trockner, bis auf das, was wir nach dem Duschen angezogen hatten, wanderte alles hinein. Maschinengewaschene Wäsche, was für ein Luxus nach den Tagen der Handwäsche! Die Wartezeit bis unsere Wäsche wieder trocken war, vertrieben wir uns in den nächsten zwei Stunden in der Bar des Hotels. Hans-Jakob, der auch hier übernachtete, gesellte sich zu uns. Bei einem Cerveza hatten wir nach kurzer Zeit ein intensives Gespräch. Wir erzählten uns gegenseitig aus unserem Leben, die einschneidenden Veränderungen, die es im Leben des anderen gegeben hatte. Ich weiß nicht mehr genau, wer mehr von sich preisgab, aber ich empfand diese zwei Stunden als etwas ganz Besonderes. Mir und Gu war ein Mensch begegnet, der anderen wirklich begegnen wollte, bei dem man sich öffnen konnte, der wiederum sich selbst dem anderen nicht verschloss. Hans-Jakob strahlte Offenheit sowie fürsorgliche Neugier bei einer doch spürbaren gesunden Distanz aus. Er war so, wie ich mir einen guten Seelsorger vorstellte. Wie sich herausstellte, arbeitete er auch als Familientherapeut. Ihm erzählte ich, warum ich meinen alten Job aufgegeben hatte und von meinen früheren beruflichen Träumen. Ich beschrieb meine Familie, meinen Vater und meine Mutter, wie sie mich und meine Geschwister erzogen hatten. Welche Werte sie uns dabei vermittelt hatten, wie wir durch ihren Umgang mit anderen Menschen geprägt wurden. Beide haben einen sehr hohen sozialen und moralischen Anspruch. Andere im Blick zu haben ist etwas Selbstverständliches für meine Eltern. Dort zu helfen, wo Not ist, das konnten und können wir Kinder immer wieder erfahren. Mein Vater hat einmal gesagt: »Ich möchte helfen, andere auf ihrem Weg unterstützen, genauso, wie ich auch einmal Hilfe bekommen habe, als ich sie ganz dringend brauchte.« Meine Familie war mir in diesem Gespräch so präsent. Auch in der Firma, die ich nun verlassen hatte, war dieser Geist immer zu spüren. Ich berichtete von meinen Geschwistern, welche Berufe sie ergriffen hatten und wo sie heute in ihrem Leben standen: Vier von uns fünf Kindern, Thomas, Bernd, Heike und ich hatten eine Laufbahn in der Bekleidungsindustrie eingeschlagen. Meine Brüder hatten Produktionstechnik studiert, nachdem sie eine Lehre -der eine als Bankkaufmann, der andere als Schneider - absolviert hatten. Bernd führt heute ein großes Einzelhandelsgeschäft. Heike hatte nach ihrer Ausbildung zur Schneiderin ein Studium der Bekleidungstechnik abgeschlossen und danach als Schnittdirectrice gearbeitet. Wie man so schön sagt: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Meine Schwester Sigrid dagegen hatte eine Ausbildung als Rechtsanwalts- und Notargehilfin gemacht, obwohl sie eigentlich Kindergärtnerin hatte werden wollen. Sie war in ihrem Job zwar sehr erfolgreich gewesen, in Frankfurt hatte sie lange Zeit als Bürovorsteherin in einer Kanzlei gearbeitet, richtig zufrieden war sie mit ihrer Berufswahl aber nie. Meine beiden Schwestern haben inzwischen geheiratet und als Hausfrauen und Mütter - die eine von drei, die andere von zwei Kindern - sind sie voll beschäftigt. Auch meine Brüder haben geheiratet. Wie ich hat Bernd keine Kinder, Thomas ist Vater von zwei Kindern.
Hans-Jakob äußerte nach allen meinen Ausführungen eine These, die er aus seiner Arbeit als Familientherapeut als
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