Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
häufiges Grundmuster kannte. Viele Familien sind über eine oder mehrere Generationen in bestimmten Berufstraditionen verhaftet, bis einer aus diesem Schema herausbricht und einen neuen Weg geht. Dieser Weg ist aber bereits durch die Familie angelegt. Man geht ihn jedoch neu, abseits der alten Traditionen, um das Potenzial einer Familie voll auszuschöpfen. Die Ressourcen werden neu genutzt und geben den Blick auf andere Horizonte frei. War das bei mir der Fall? Sollte ich auch deshalb andere Wege gehen? Sollte ich den Menschen auf eine andersartige Weise zum Mittelpunkt meiner zukünftigen Arbeit machen? Würde ich nicht mehr in der freien Wirtschaft arbeiten, sondern mich vielleicht in anderen sozialen Zusammenhängen bewegen? Hans-Jakob erwähnte in diesem Zusammenhang seine familientherapeutische Ausbildung am Institut für Familientherapie in Weinheim und empfahl mir, mich dort zu informieren. Dieses Gespräch war für mich wie ein weiterer Stein des Mosaiks, das ich für meine Zukunft legte. Mehr denn je war ich sicher, dass mir der Camino Klarheit verschaffen würde!
Gegen vier brachen wir auf, um uns Puente la Reina anzuschauen. Die kleine Stadt ist beeindruckend. Gleich zu Anfang gingen wir durch einen romanischen Torbogen, der das Johanniterkloster, ein vormaliges Pilgerspital, sowie die ehemalige Templerkirche miteinander verbindet. In dieser eher kleinen Iglesia del Crucifijo ist ein ungewöhnliches Pilgerkreuz zu besichtigen. Die Christusfigur ist auf einem Stamm in Y-Form angebracht. Sie soll eine Schenkung rheinländischer Pilger sein, die sie im 14. Jahrhundert von dort auf ihren Schultern bis nach Puente la Reina getragen haben sollen. Kaum vorstellbar, mir war mein Rucksack schon Anstrengung genug und früher hatte es sicher nicht in jedem Dorf eine Verpflegung wie heute gegeben. Das Kreuz, es gibt noch ein zweites dieser Art in Carrión de los Condes, war jedenfalls etwas Besonderes. Die Calle Mayor, ein Teil des Pilgerweges, führte direkt durch die Stadt. Im Ortskern liegt die Iglesia de Santiago. Auf ihrem Turm konnten wir ein weiteres Phänomen dieser Reise beobachten: Ein Storchenpaar hatte auf dem Kirchturm sein Nest gebaut und man konnte das Kommen und Gehen der Storcheneitern gut beobachten. Gu und ich schauten uns lachend an und werteten es als gutes Zeichen. Wer weiß, vielleicht würde unser Wunsch, doch noch Vater und Mutter zu werden, eines Tages in Erfüllung gehen? Was wir nicht wussten, Störche würden wir immer wieder entlang unseres Weges sehen, Nordspanien war anscheinend eine bevorzugte Gegend zur Aufzucht ihres Nachwuchses. Möglicherweise spürten die Vögel auch die Magie und Spiritualität, die Nähe zu Gott? Warum sollten allein wir Menschen diesen Weg für uns beanspruchen?
Das Innere der Kirche war im Gegensatz zur eher kargen Iglesia del Crucifijo, die wir vorher besichtigt hatten, reicher und mit vielen Goldornamenten ausgeschmückt. Wir folgten weiter der Calle Mayor und schlenderten in gemütlichem Tempo in Richtung der Brücke, die der Stadt ihren Namen gegeben hatte. Die Brücke, ein romanischer Bau, spannt sich über den Río Arga, der hier sehr breit ist. Auf der Mitte der Brücke blieben wir stehen, um den Fluss und die Stadt in aller Ruhe zu betrachten. Die Sonne schickte uns ihre wohltuenden Strahlen und so entspannt, wie der Arga dahin floss, so entspannt gaben wir uns auch der Zeit und dem Raum hin. Ein irischer Lehrer, der mit seiner Klasse, zu der auch seine Tochter gehörte, unterwegs war, verwickelte uns in ein kurzes, aber lustiges Gespräch. Diese offene Atmosphäre unter den Pilgern gefiel mir gut. Man erfährt so viel Neues. Auf unserem Weg zurück, kauften wir neuen Proviant ein. In einer Bar tranken wir draußen einen Kaffee und beobachteten das Treiben um uns herum. Wir sahen viele Pilger wieder. Toni und Erni, die Franzosen, Daniel, den jungen Polen, der in Obanos von uns ein Foto gemacht hatte, sowie Bert und Theo, die sich kurze Zeit später zu uns setzten. Wir tauschten uns gerade über unsere Herbergen aus - sie übernachteten in der Herberge am Ende der Stadt und waren von ihr völlig begeistert - als Jörg und Nele die Calle Mayor entlangkamen. Welch ein Hallo, wir alle freuten uns sehr, Nele wiederzusehen. Sie hatte sich doch entschlossen, weiterzugehen. Nun hatte sie uns, auch Jörg, hier wieder getroffen. Der Camino hat eben seine eigene Dynamik.
Vor dem Abendessen besuchten wir die Pilgermesse. Hier merkt man oft erst, wie viele
Weitere Kostenlose Bücher