Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
auch schon so weit gewesen. Ich warte nicht gerne, ich fühle mich gebremst und in meinen schon im Kopf vorhandenen konkreten Plänen gestört. Ich muss mir dann immer selbst klarmachen, welche positive Seite Warten auch haben kann, so hatte Hans-Jakob Zeit, uns von seiner letzten Nacht zu erzählen. In Torres del Río hatte er keinen Schlafplatz mehr bekommen und deshalb auf dem Dach der Herberge unter freiem Himmel geschlafen. Der Sternenhimmel über ihm wäre ein wunderbares Erlebnis gewesen, auch wenn es empfindlich kalt geworden wäre. Würde ich mich so etwas jemals trauen, ich alter Angsthase im Dunkeln? Endlich durften wir auch hinein, die Betten wurden uns mittels einer Nummer zugewiesen. Oben, fast unter dem Dach, in einem der letzten noch zu besetzenden Schlafräume waren unsere Betten. Wir hatten Pech, unsere Plätze befanden sich genau an der Tür, also würden wir das ständige Kommen und Gehen der anderen achtzehn Pilger in dem Raum hautnah miterleben können. Wir hofften, dass die Nacht trotzdem einigermaßen ruhig verlief.
Ich entledigte mich meiner Shorts. Ja, ich hatte zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder eine kniefreie Hose angehabt. Dass ich sie mir überhaupt gekauft hatte, lag ausschließlich an Gu, er hatte mir deswegen gut zugeredet. Nur ihm zuliebe hatte ich sie eingepackt, in der festen Überzeugung sie auf keinen Fall zu irgendeinem Zeitpunkt der Reise aus dem Rucksack zu holen, geschweige denn zu tragen. Die Hitze, vielleicht auch eine veränderte Einstellung, hatte mich heute Morgen diesen Vorsatz vergessen lassen. Bisher hatte ich meine Kleidung immer als eine Art Schutzschild benutzt. Indem ich mich perfekt kleidete und meine äußeren Makel, wie beispielsweise meine hässlichen Knie, verdeckte oder kaschierte, fühlte ich mich sicher und nicht so schnell angreifbar. Dieses Verhaltensmuster hatte ich heute durchbrochen, auch wenn es am Tag die eine oder andere Situation gegeben hatte, in der ich mich nicht sonderlich wohl gefühlt hatte, so war ich dennoch stolz auf mich. Meine Besenreißer, meine wunden Stellen durch die Neurodermitis, die Zellulitis und meine Knie hatten mich nicht davon abgehalten, die erste kurze Hose seit über 25 Jahren zu tragen!
Wir waren schon sehr beeindruckt gewesen, als wir in Logroño hineingelaufen waren. Die Brücke Puente de Piedra führte über den Ebro, einen der größten Flüsse Spaniens; mit ihren sieben Bögen wirkte sie imponierend. Sie führt direkt in das älteste Viertel der Stadt, in dem auch die Herberge liegt. Jetzt spazierten wir durch enge, alte Gassen. Es war wegen der Siesta noch relativ ruhig, nur wenige Menschen schlenderten umher oder saßen in den Cafés. Das Viertel wirkte wie ausgestorben, alle offiziellen Gebäude waren geschlossen. Am Marktplatz, direkt an der Kathedrale Santa Maria de Palacio, setzten wir uns deshalb in die Sonne, genossen die Ruhe, beobachteten die Menschen um uns herum und freuten uns darüber, fernab von zu Hause so überhaupt keinen Druck zu verspüren. Nach einiger Zeit sahen wir Kathrin quer über den Platz kommen, sie war in Begleitung von drei weiteren Leuten. Alle vier hatten keinen Platz mehr in der Herberge bekommen und waren nun auf der Suche nach einem Bett. Wir gaben ihnen den Tipp mit den Hostals. Kathrin erzählte uns später, sie habe sich dann ein Zimmer mit einer ihrer Begleiterinnen geteilt, einer jungen Norwegerin, die mit ihren Eltern unterwegs sei. Die Norweger waren eine interessante Familie, sehr freundlich, offen und zugewandt. Die Eltern sahen aus wie echte Wikinger, hochgewachsen, mit klaren und schönen Gesichtszügen, wettergegerbt, hellblondes beziehungsweise schlohweißes Haar. Die Tochter hatte offensichtlich das Aussehen ihrer Eltern geerbt, sie arbeitete als Model. Welche Beweggründe hatte sie wohl zu pilgern? Fühlte sie sich auch ausgebrannt von der Hektik der Mode- und Werbewelt?
Auf der Kathedrale nisteten wieder Störche, wie immer erfreuten wir uns an ihrem Anblick. Im Inneren des Gotteshauses nutzte ich die Zeit wieder für ein Zwiegespräch mit Gott. So viel Schönes war an diesem Tag passiert, für das ich dankbar sein konnte. Es tat gut, neben Gu in der Bank zu sitzen, ihn bei mir zu haben, den eigenen Gedanken nachzuspüren und sich geborgen und behütet zu fühlen. Hier konnte ich einfach sein. Die Kirche war zudem pittoresk ausgestattet. Zwei handwerklich beeindruckend geschnitzte Altäre stachen ins Auge. Mich erstaunt immer wieder, wozu Menschen
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