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Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela

Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela

Titel: Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Dankbar
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herzlichen Eindruck vermittelte. Sie fragte uns, wie wir diesen Ort empfanden, welche Gefühle er bei uns auslösen würde. Bevor wir antworten konnten, erklärte sie uns auf Englisch: »My whole life I was looking for God. Everywhere I tried to find him, here I can feel him. Here, in this church, at this place, he is with us. I am so deeply happy. I cannot believe it, I finally found him!« Während sie uns dies sagte, füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Worte wurden von Schluchzen unterbrochen. Ich glaubte ihr jedes Wort, ihre Sätze kamen aus tiefstem Herzen. Sie empfand genauso, wie sie es gesagt hatte. Was empfand ich für diesen Ort? Ja - er war etwas Besonderes. Die Kirche war alt und gab Zeugnis ab von vergangenen wie auch gegenwärtigen Ereignissen. Nicht nur die Einheimischen, auch die zahlreichen Pilger luden hier ihre Sorgen ab, äußerten ihre Wünsche und Hoffnungen, feierten Freudenfeste. »Gottes Sehnsucht ist der Mensch«, hat Augustinus so treffend formuliert. Ein Platz wie dieser ist von Gott erfüllt, da bin ich mir sicher, denn Gott will bei den Menschen sein, die zu ihm kommen.
    Der Gottesdienst war sehr gut besucht, viele Einheimische feierten mit uns. Es war die schönste Messe meiner gesamten Pilgerreise. Wir waren umringt vom örtlichen Damenchor, der für uns sang. Der Priester wirkte engagiert. Er hielt die Liturgie feierlich und uns sehr zugewandt ab. Am Ende bat er uns alle nach vorne, damit er uns segnen konnte. Mirella stand neben mir, umarmte mich liebevoll und bat mich flüsternd sie in Vincenza auf jeden Fall zu besuchen. Auf Englisch lobte der Priester uns. Pilger, die sich auf diesen Weg machen würden, um das Grab des heiligen Apostels zu erreichen, wären für ihn eine große Freude. Tränen stiegen in mir hoch, sammelten sich in meinen Augen. Nur mühsam konnte ich sie unterdrücken. Es war schön, für jemanden eine Freude zu sein, egal aus welchem Grund. Nach dem Segen verließen fast alle die Kirche, doch ich ging zurück in eine Bank, kniete nieder und wollte noch mal ganz für mich allein beten. Doch die Tränen überkamen mich ein zweites Mal, diesmal ließen sie sich nicht zurückhalten. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht, weinte, schluchzte. Es war befreiend und tröstlich zugleich, so als würde mit jeder Träne eine große Last von mir genommen. Was waren das für Lasten? Empfand ich immer noch eine Art von Schuld, weil ich unseren Familienbetrieb hinter mich gelassen hatte? Weil ich mir eine Auszeit gönnte? Weil ich mich selbst in den Vordergrund stellte und nicht andere oder anderes? Weil ich Verantwortung, Verpflichtung und Disziplin nicht mehr so wichtig nahm? Ich dachte an meine Familie, wie lieb ich sie hatte, wie sie mich trug, aber auch manches Mal belastend war. Blickte auf meine Sorgen, Nöte und Ängste zurück. Ich dachte an meine gescheiterten Beziehungen. Wem hatte ich weh getan? Wer hatte mir weh getan? Dieser Moment war einer der einschneidendsten auf dem Weg, es war wie ein neuer Anfang. Ich durfte alles loslassen, so als wenn mir jemand die Erlaubnis dazu gab. Ja, sogar Verständnis für mich aufbrachte. Ich fühlte mich gut aufgehoben. Woran lag das? Lag es an diesem Gotteshaus? Lag es am Pilgern? Papst Benedikt ist in einem Interview einmal gefragt worden, ob der Weg zu Gott immer über die Kirche gehe. Er hat geantwortet: »So viele Menschen es auf der Welt gibt, so viele Wege gibt es zu Gott.« Nach einer ganzen Weile tippte mir sanft jemand auf die Schulter. Als ich aufschaute, blickte ich in das Gesicht einer älteren Einheimischen, die mich mit Tränen in den Augen mitleidig und besorgt anschaute, auf Spanisch fragte sie, ob ich Hilfe bräuchte, jedenfalls verstand ich es so. Ich bedankte mich bei ihr und versuchte ihr begreiflich zu machen, dass es mir gut gehe. Ja, es ging mir gut, es war eine gesunde Traurigkeit, die ich hatte. Sie war reinigend. Bevor die Frau ging, drückte sie fest meine Hand. Vor der Kirche wartete Gu. Er breitete liebevoll seine Arme aus, ich schmiegte mich an ihn. Gut, dass er da war, einfach nur da war. Ohne Worte verstand er und hatte mir in der Kirche die Zeit gegeben, die ich benötigte. Auch er passte auf mich auf.
    Oben im Gemeinschaftszimmer war ein zweiter großer Tisch neben dem anderen aufgebaut worden. Vierzig Pilger fanden nun an diesen beiden Tafeln Platz und unser Herbergsvater hieß uns alle nochmals willkommen. Er rief die Herkunftsländer der anwesenden Pilger nacheinander auf und die

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