Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
spannend fand, nun alleine unterwegs zu sein. Wir hatten vereinbart, regelmäßig zu telefonieren. Er sollte damit auch Anlaufstelle für meine Eltern und Geschwister sein, falls sie die neuesten Infos über meine Wanderschaft haben wollten. Ich rief ihn in der Folgezeit jeden dritten oder vierten Tag an. In den ersten Tagen vermisste ich ihn sehr, auch während meines Zwischenstopps in León sollten mich seine Anrufe trösten, später hielt mich der Weg immer mehr gefangen mit all seinen Geschichten und Erlebnissen. Mein Zuhause rückte weiter in den Hintergrund. Gu war in meinem Herzen, das reichte mir.
Am anderen Morgen ging nichts mehr. Schon im Bett spürte ich, dass an ein Weiterwandern nicht zu denken war. Schon in der Nacht hatte mir das rechte Bein kaum Ruhe gelassen, ein Krampf hatte den anderen gejagt. Ich fühlte mich elend. Am liebsten wäre es mir gewesen, dass ich nach meiner Mutter hätte rufen können, damit sie sich um mich kümmert. Sie hätte mir wohl versichert, dass es richtig sei, liegen zu bleiben und mein Bein zu schonen. Es wäre wie eine Absolution gewesen: »Ja, Sabine, bleib liegen, ruhe dich aus, du kannst mit der Schwellung wirklich nicht weiter.« Nun musste ich mir selbst eingestehen, dass eine Ruhepause unumgänglich war. Das fiel mir so unendlich schwer. Mir meine eigene körperliche Schwäche zuzugestehen, ohne dafür die Genehmigung von außen zu haben. Zu Hause war das auch so, erst wenn gar nichts mehr ging und jeder meinen miserablen Zustand erkannte, erst dann gönnte ich mir eine Ruhepause. Ebenso ging mir durch den Kopf, dass alle anderen weitergehen würden, nur ich würde in Hontanas Zurückbleiben. Nicht mit weiterziehen zu können, ging mir komplett gegen den Strich. Bestimmt würde ich einiges verpassen, viele meiner bisherigen Mitwanderer nicht mehr wiedersehen. Ich fluchte innerlich über meinen schwachen Körper. In dieser Verfassung stand ich kurze Zeit später an der Rezeption der Herberge, die gleichzeitig auch als Bar diente. Der Mann dahinter verteilte ein Frühstück nach dem anderen an die einzelnen Pilger, die zum größten Teil schon für den Aufbruch gerüstet waren. Ich versuchte ihn zu fragen, ob ich noch einen weiteren Tag bleiben und ob ich eines der Einzelzimmer haben könnte, die es dort auch gab. Er verstand mich nicht, mein Spanisch war zu schlecht und er verstand kein Englisch. Die Tränen, die ich ohnehin schon die ganze Zeit verzweifelt zu unterdrücken versuchte hatte, kullerten jetzt über meine Wangen. Mir tat alles weh, ich fühlte mich mutterseelenallein und war kreuzunglücklich. Der Wirt war total erschrocken, alle schauten mich neugierig an. Ich wäre gern auf der Stelle in den Boden versunken. Da stand ich einundvierzigjährige Frau, die noch vor ein paar Wochen in jeder Situation ihre »Frau« hatte stehen müssen, und war völlig hilflos. Doch ich hatte die Solidarität unter den Pilgern vergessen, so viele versuchten mir nun zu helfen. Fragten nach, boten ihre Hilfe an, schließlich übersetzte Rudi, der gut spanisch sprach, für mich. Kurz darauf war alles geregelt. Ich konnte so lange im Schlafsaal bleiben, bis das neue Zimmer gerichtet war. Welche Ironie, dass ausgerechnet Rudi, den ich nicht sonderlich sympathisch fand, mir geholfen hatte. Ich war ihm sehr dankbar.
Rosi, Katrin und auch Gabriella, die ebenfalls hier übernachtet hatte, machten sich auf den Weg und verabschiedeten sich von mir mit liebevollen Umarmungen und Genesungswünschen. Es fiel mir sehr schwer, sie gehen zu lassen. Sie symbolisierten meinen bisherigen Weg und seinen geplanten Ablauf, von dem ich mich nun lösen musste, wohl oder übel. Wann lernte ich mit mir selbst mehr Geduld zu haben? Wann, den Dingen ihren Lauf zu lassen? Wann, nicht darüber nachzudenken, was ich in der Zukunft verpassen könnte, sondern zu schauen, was die Gegenwart mir bringt? Der Tag sollte einiges für mich bereithalten. Am Ende des Tages wusste ich, warum ich hier eine Pause machen sollte.
Während ich draußen in der Sonne saß, passierte ein Pilger nach dem anderen die Herberge. Am späten Vormittag sah ich aus der Ferne die zwei Blondschöpfe, die mir in der Küche in Logroño aufgefallen waren, auftauchen. Ute und Ute setzten sich zu mir. Die kleine Ute meinte: »Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um eine Pause zu machen und mit Sabine auf meinen Geburtstag anzustoßen.« Sie hatte tatsächlich Geburtstag und bestellte nun eine große Flasche Sekt, die wir auf ihr Wohl
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