Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
wollte, Ruhe, Stille, Einkehr bekam ich hier nicht, dessen war ich mir sicher. Mein Impuls den Ort zu verlassen, doch weiterzulaufen bis nach Hontanas, wurde immer stärker. Mein angeschwollenes Schienbein hielt mich zurück. Mir war klar, dass es viel vernünftiger war, dem Bein nicht weitere fünf Kilometer Strapazen zuzumuten. Da saß ich nun auf der Terrasse, rang mit mir, vielmehr mein Gefühl und mein Verstand rangen miteinander. Mein Gefühl siegte, ich packte meine Sachen und machte mich nach zwei Stunden Zwischenaufenthalt erneut auf den Weg. Obwohl ich mich vorwärts quälte, war ich zufrieden. Ich hatte eine mir nicht zusagende Situation nicht einfach ausgehalten, nach dem Motto: Augen zu und durch, sondern sie in die Hand genommen und verändert. Wie oft hatte ich mich in solchen Momenten selbst dazu motiviert, die Umstände doch einfach anzunehmen, einen positiven Blick darauf zu werfen, dann würde schon irgendwann ein Zustand der Besserung eintreten. Wie oft hatte ich gedacht, es könnte doch auch sein, dass ich etwas Besonderes, Tolles oder Schönes verpasse, wenn ich sofort aufgebe. Grundsätzlich finde ich diese Haltung gut, aber manchmal führt sie auch in eine Sackgasse und ist nicht angebracht. Nur weil ich mit einer zunächst gefällten Entscheidung nicht klarkam und sie instinktiv gerne revidieren wollte, musste ich mich nicht selbst bestrafen, indem ich dort blieb.
Als nach eineinhalb Stunden endlich die Kirchturmspitze von Hontanas wie aus dem Nichts aus einer Senke vor mir hervorragte, hätte ich jubilieren können. Hoffentlich war noch ein Bett in einer der beiden Herbergen frei. Ich hatte Glück im ersten Refugio. Ein oberes Bett, auch noch am Fenster gelegen, schien nur auf mich gewartet zu haben. Jetzt war ich noch überzeugter, das Richtige getan zu haben. Beim Abendessen eine halbe Stunde später lernte ich Rosi und Katrin, Mutter und Tochter aus Nürnberg sowie Rudi kennen. Die beiden Nürnbergerinnen waren sehr nett. Wie verbindend muss es sein, so eine gemeinsame Erfahrung zu machen. Ich dachte an meine Eltern. Würde ich das überhaupt wollen, mit meinem Vater oder meiner Mutter eine solche Reise zu unternehmen? Mir ging das Für und Wider durch den Kopf. Rosi machte nicht gerade einen sportlichen Eindruck auf mich, sie hatte etwas Mütterlich-Gemütliches. Würde sie die Strapazen ohne Schaden überstehen können? Katrin, eine hübsche junge Frau von Mitte/Ende zwanzig, fiel durch ihr für den Camino untypisches Styling auf. Über ihren dunklen Locken trug sie fast immer ein rotes Tuch, das wie ein Turban geschlungen war. Überhaupt erinnerte ihre Kleidung ein wenig an eine verwegene Räuberin aus Tausendundeiner Nacht. Sie fiel auf und war eine der interessantesten Frauen auf dem Weg. Rudi unterhielt uns mit Geschichten zum Camino. Er war schon einige Male die Strecke gegangen und verteilte nun ungefragt Tipps und Ratschläge. Wären sie nicht so inflationär gewesen, hätte ich sie mehr schätzen können. Wir drei waren uns später darüber einig, wieder einmal einem Mann begegnet zu sein, der sich am liebsten selbst reden hörte. Vielleicht war er mir auch deshalb nicht sonderlich sympathisch, weil sein Gebiss vorne einige Lücken aufwies. Rudi war noch keine fünfzig Jahre alt, dessen war ich mir sicher.
Rosi, Katrin und ich ließen den Abend draußen ausklingen. Die Herberge war gleichzeitig Hostal und Restaurant und hatte auch eine Außenterrasse, die an der Hauptstraße des Dorfes lag. Die Straße war eher ein Gässchen und nur ganz selten fuhr ein Auto vorbei. Es handelte sich auch um den offiziellen Pilgerweg, sodass jeder Pilger hier entlang musste. Die letzten Sonnenstrahlen erwärmten uns und wir plauschten angeregt. Plötzlich tauchte aus der Richtung der anderen Herberge eine junge Frau auf, die von Rosi und Katrin herzlich begrüßt wurde. Sie hatte dunkle, raspelkurze Haare, ging mir nur bis zur Schulter und wirkte wie ein kleines, energievolles Kraftpaket. Ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte zwanzig. Es war Steffi aus der Schweiz, die bereits zwei Monate unterwegs war und in Genf gestartet war. So viele Kilometer lagen schon hinter ihr, ganz allein war sie die Strecke gewandert! Ich schloss sie spontan in mein Herz. Sie war so lustig, offen, unverstellt und neugierig. Ein besonderer Mensch stand vor mir. Sie sollte zu einer meiner wichtigsten Weggefährtinnen werden.
Vor dem Schlafengehen telefonierte ich noch mit Gu. Er fehlte mir, auch wenn ich es
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