Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
lag einladend zwischen den Feldern, umgeben auch von einigen Schatten spendenden Bäumen. In einigen Abständen zogen immer wieder Pilger an mir vorbei, auch Gabriella und Hans-Jakob. Letzterer leistete mir Gesellschaft und nach kurzer Zeit brachen wir gemeinsam auf. Ich lief langsamer als er, so dass Hans-Jakob irgendwann vorlief und meinte: »Ich warte in Hornillos auf dich, dort trinken wir noch einen Kaffee zusammen.« Tatsächlich saß er dort, als ich nach zwanzig Minuten eintraf. Die kleine Bar war sehr strategisch platziert, direkt am Pilgerweg, der durch das Dorf führte und nicht weit vom Eingang der Herberge entfernt. So konnten wir jeden Pilger in Augenschein nehmen. Es waren so viele darunter, die ich schon kannte und fast an jedem Abend sah. Im Gegensatz zu meinen morgendlichen Gefühlen hatte ich nun irgendwie keine Lust auf sie. Ich wollte nicht in diesem Pilgerpulk festsitzen. Hans-Jakob
wollte bis nach Hontanas gehen und verabschiedete sich. Ich zögerte mein »Einchecken« in der Herberge immer weiter hinaus, immer mehr Pilger kamen geduscht und umgezogen in die Bar. Ich war unentschlossen. Mein Bein schmerzte immer noch leicht und auch die Schwellung war nicht zurückgegangen; vernünftiger war es hier zu bleiben. Von anderen Pilgern hörte ich nun von San Bol. Die Herberge war einsam gelegen, ungefähr sechs Kilometer weiter in einer Senke, und bot nur wenigen die Möglichkeit dort zu schlafen. Im Wanderführer stand auch, dass kein Strom vorhanden war, Wasser aus einer Quelle lief und keine sanitären Anlagen vorhanden waren. Ich weiß nicht warum, ich stellte mir einen mystischen und spirituellen Ort vor. Es reizte mich, dorthin zu gehen. Entgegen aller Vernunft lief ich nach über einer Stunde weiter, es zog mich einfach voran. Meine Trinkflasche war mit frischem Brunnenwasser neu aufgefüllt. Das Gehen lief besser als erwartet, mein Rucksack fühlte sich seltsamerweise leichter an als vorher. Ein strahlendblauer Himmel, die wogenden Felder und dazwischen der sich dahinschlängelnde Weg veranlassten mich wieder lauthals das Halleluja zu singen.
San Bol war aus der Ferne betrachtet ein grandioser Anblick. Es lag eingebettet in einer von Bäumen umstandenen Mulde, das Gebäude in knalligem Blau schimmerte im Sonnenlicht. »Willkommen«, schien es zu sagen, wie es so friedlich da lag. Beschwingt ging ich die letzten Meter bis dorthin. Doch wie groß war meine Enttäuschung, als ich dort ankam. Laute Musik, mit hartem Beat unterlegt, empfing mich. In der wirklich bezaubernden Lichtung waren überall Zelte verteilt, eine Regenbogenfahne flatterte im Wind, überwiegend jüngere Menschen als ich waren zu sehen. Einige saßen im Gras, rauchten und tranken Bier. Im Haus selbst standen die Essensreste vom Mittagessen noch herum, umschwirrt von Fliegen. Alles war offen gestaltet, von der Küche ging man direkt in den Schlafraum. Dort reihten sich sechs Stockbetten aneinander. Die Matratzen waren mit Laken überspannt, die von Flecken übersät waren, alles machte keinen sonderlich sauberen Eindruck. Ich war ja schon einiges gewohnt, aber dies übertraf alles Bisherige. Trotzdem beschloss ich zu bleiben. Eine Reisegruppe von ungefähr sechs Leuten, mit denen ich vorher schon kurzen Kontakt gehabt hatte, Paolo und auch der Herbergsvater, ein junger Italiener, schienen mir eine wohltuende Gesellschaft für den Abend zu sein. Ich packte aus, zog mich kurz um und setzte mich draußen auf die Terrasse. Die Lichtung war schön. Die späte Nachmittagssonne tanzte mit ihren Strahlen durch das Geäst der Bäume. Licht und Schatten wechselten sich ab, Schmetterlinge tanzten über das Gras. Viele Vögel zwitscherten und tirilierten. Es wäre bezaubernd gewesen, wenn nicht die Stille und die Spiritualität von der aufkommenden Partyatmosphäre gestört worden wäre. Die Musik gefiel mir nach wie vor nicht. Ich fragte den jungen Italiener, wie die Abende hier ablaufen würden. Seine Antwort war: »Wir lassen alles auf uns zukommen. Irgendwann fangen wir an zu kochen, derjenige, der Lust hat beteiligt sich. Wir essen gemeinsam und dann, mal schauen, worauf wir Lust haben. Jeder geht dann ins Bett, wenn er mag. Wir hören Musik und feiern das Leben.« Das Leben feiern, dagegen hatte ich nichts, aber auf eine Party, die bis in die späten Nachtstunden gehen könnte, darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Ich fühlte mich in meiner eigenen Haut nicht mehr wohl, ich kam mir deplatziert vor. Das, was ich eigentlich
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