Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
langen, ausgedehnten Pausen, mit denen ich alles wieder hatte wettmachen wollen, hatten mir gar nichts genutzt. Im Gegenteil, danach war es mental wie körperlich umso schwieriger wieder in Tritt zu kommen. Trotzdem möchte ich diese Tage nicht missen. Meine Wahrnehmung für die Natur und die Schönheiten des Weges wurden durch meine körperlichen Schwächen seltsamerweise nicht beeinträchtigt. Nach wie vor berauschte ich mich an der endlosen Weite der Meseta. Immer wieder ging mein Blick über die vor mir liegenden Felder, von dort schweifte er ab in den Himmel und verlor sich in das Unendliche des Horizontes.
Ungeachtet meiner Schmerzen hatte ich viele wunderbare Erlebnisse. Hinter Castrojeriz erhob sich inmitten der Ebene ein Tafelberg, der Alto de Mostelares. Auf 911 Metern konnte ich die grandiose Landschaft nun auch noch von oben bewundern. Bei einem Stopp vor der Kapelle San Nicolas, die in der heutigen Zeit in ihrer einfachen, schönen und mystischen Art den Pilgern sowohl als Gotteshaus wie auch als Herberge dient, traf ich wieder auf Ute und Ute. Mit ihnen und Anderen zusammen sang ich einem älteren Japaner ein Geburtstagsständchen, der sich so sehr freute, dass er uns allen selbst gefaltete Origami-Kraniche schenkte. Der Kranich ist in der Mythologie ein Vogel mit hoher Symbolik. In Ägypten wurde er als Sonnenvogel verehrt, in Japan steht der Kranich für Glück und Langlebigkeit. Seit dem Tode des Atombombenopfers Sadako Sasaki, die mit dem Falten von Origami-Kranichen gegen ihre durch die Strahlung verursachte Leukämie-Erkrankung ankämpfte, sind sie auch zu einem Symbol der Friedensbewegung und des Widerstandes gegen Atomwaffen geworden. Zudem bekommt nach alter japanischer Legende derjenige, der 1000 Origami-Kraniche faltet, von den Göttern einen Wunsch erfüllt. Unser Japaner hatte einen ganzen Plastikbeutel voll mit solchen Kranichen, die er mit einem hellen Strahlen im gesicht ans uns verteilte. Welchen Wunsch er wohl an die Götter hatte? Welch ein Widerspruch in sich! Jetzt war er auf dem christlichen Jakobsweg, um am Grab des Apostels alle seine Sünden erlassen zu sehen und gleichzeitig versuchte er, diese Legende zu erfüllen. Ich hoffe, er hat beides erreicht. Mein kleiner, filigraner, liebevoll gefalteter, roter Papierkranich liegt jedenfalls zwischen den Seiten meines Tagebuches und erinnert mich immer an diese einzigartige Begegnung.
In Boadilla angekommen, erwartete mich das Paradies! Neben der Dorfkirche lag die Albuerge en el Camino, ich durchschritt ein aus Ziegelsteinen gemauertes Tor und vor mir breitete sich ein liebevoll gestalteter Garten aus. Gepflegter Rasen, überall Bottiche mit blühenden Blumen sowie Schatten spendende Bäume empfingen mich und zu allem Überfluss befand sich mittendrin ein Swimmingpool. Wir - Michael, Malin, Ute und Ute wie auch ich - verbrachten den ganzen Nachmittag damit, faul in der Sonne zu liegen, uns ab und zu im kalten Nass abzukühlen und dabei reichlich Rotwein zu genießen.
Es war eine heiter-entspannte Atmosphäre, die sich bis spät in den Abend hineinzog. Wir plauderten, scherzten und tauschten viele sehr persönliche Erfahrungen aus. Ich konnte wieder einmal feststellen, wie mein eigenes Verhalten dazu führte, mit anderen Menschen intensiver in Kontakt zu kommen. In dem Maße, wie ich mich öffnete, unverstellt und ehrlich, öffneten sich auch die Herzen der Menschen um mich herum. Es war beglückend. An diesem Abend traf ich auch Bernhard zum ersten Mal. Er war vielleicht um die Mitte fünfzig, braun gebrannt mit einem von Falten durchfurchten Gesicht, das männlich-markant wirkte. Seine schlanke und hoch gewachsene Gestalt im roten T-Shirt war nicht zu übersehen. Wie er später erzählte, arbeitete er als Theaterdramaturg. Ein »normaler« Beruf wie Schreiner oder Rechtsanwalt hätte auch irgendwie nicht zu ihm gepasst, er wirkte sehr künstlerisch-intellektuell. Außerdem war er stets aus einiger Entfernung zu riechen, an diesem Abend vertrieb seine Pfeife die Mücken um uns herum. Bernhard gab mir eine wunderbare Fußmassage und war auch später immer wieder mit Salben zur Stelle, wenn es galt wunde Füße zu verarzten.
In der Nacht hatte ich einen Traum, den ich sehr intensiv erlebte. Wie immer lag ich im oberen Bett, das Bett neben mir, nur getrennt durch eine schmale Ritze, war frei geblieben. Irgendwann spürte ich, wie sich jemand an mich schmiegte und mich liebevoll in den Arm nahm. Ich fühlte mich beschützt
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