Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
köpften. Meine doch leicht melancholische Stimmung besserte sich. Gut, der Alkohol spielte auch eine Rolle, aber unser unverhofftes Wiedersehen war der Hauptgrund. Sie berichteten mir, dass sie gestern mit Gu noch vor seiner Abreise gefrühstückt hatten und sie mir, falls sie mich sehen würden, noch Grüße von ihm ausrichten sollten. Ich erfuhr viel von den beiden. Die kleine Ute arbeitete im psychosozialen Bereich, in der Drogenhilfe. Wieso traf ich immer wieder auf Menschen aus diesen Zusammenhängen? Das konnte kein Zufall sein. Die große Ute hatte gerade ihren Job gekündigt und war mit ihrem Mann in eine andere Stadt gezogen. Sie war ungefähr in meinem Alter. Sie war so groß wie ich, ihre hellblonden Haare umschlossen in leichten Wellen ihren Kopf, sie hatte empfindlich helle Haut und trug eine markante schwarze Brille. Sie war äußerlich betrachtet eher der klassische Typ. Die kleine Ute war knackig braun, ihre Haare waren fransig-frech geschnitten und ihre Wanderkleidung leuchtete fröhlich bunt. In ihren Ohren baumelten lange Ohrringe. Wie sich herausstellte, war sie schon über fünfzig, was man ihr nicht ansah. Die beiden waren in fast jeder Hinsicht unterschiedlich. Was sie einte, waren ihr Name, ihre Haarfarbe und ihr fröhliches, lautes Lachen. Für mich war es kein Zufall, dass ausgerechnet diese beiden Frauen heute meinen Weg kreuzten. Wahrscheinlich sollte ich durch ihr Verhalten erkennen, was es bedeuten kann, den Tag einfach kommen zu lassen. Obwohl sie noch bis Castrojeriz weiter wollten, saßen sie in aller Seelenruhe schon seit über einer Stunde bei mir. Kurze Zeit später standen auf einmal Malin und Michael vor mir. Wir konnten es alle drei nicht fassen, dass wir uns doch wiedersahen und umarmten uns herzlich. Sie wollten in Hontanas bleiben, weil Michael immer noch sein Knie schonen sollte. Ich fühlte mich reich beschenkt. Diese Begegnungen hätte ich nicht gehabt, wenn ich weitergezogen wäre und nicht auf meinen Körper gehört hätte.
Der Tag verging mit intensiven Gesprächen, Essen, Siesta und einem Spaziergang durch das kleine, malerische Hontanas. Die Ruhe und Schonung taten meinem Schienbein gut. Die Tabletten, die ich mir in Burgos gekauft hatte, wirkten zusätzlich. Ich fasste am Abend den Entschluss, am nächsten Morgen auf jeden Fall weiterzugehen. Die leise Stimme, die sich aus meinem tiefsten Inneren Gehör zu verschaffen versuchte: »Bleib einen weiteren Tag, gönne deinem Bein noch weitere Schonung, sei vernünftig«, ignorierte ich. Nein, ich wollte weiter. Anscheinend hatte ich nach wie vor die Lektion über das Innehalten und über die Geduld mit sich selbst nicht verstanden.
15. bis 17. Pilgertag, 6.-8. Juni 2006
Hontanas - Boadilla del Camino - Carrión de los Condes - Terradillos de los Templarios
»Wunderbar geschlafen! Mein rechtes Bein tut zwar noch weh, aber ich werde laufen!« Diesen Satz schrieb ich am Morgen nach meiner eintägigen Pause in mein Tagebuch. Mit Ausrufezeichen, so als wenn ich mir selbst etwas beweisen wollte. Knapp 83 Kilometer legte ich in den nächsten drei Tagen zurück, im Schnitt also pro Tag fast 27 Kilometer. Für mein lädiertes Bein sollte das nicht ohne Folgen bleiben. Nichts hatte ich dazugelernt. Mein Tempo nahm von Tag zu Tag mehr ab. Meine zu Beginn noch zügige und muntere Schrittfolge wurde am Ende zu einem müden und sehr angespannten Laufstil. Manchmal überkam es mich und ich zwang mir und meinem angeschlagenen Bein ein komplett rücksichtsloses Verhalten auf. Dann biss ich meine Zähne zusammen, missachtete die Schmerzen und riss einige Kilometer in einem Affentempo ab. In solchen Situationen handelte ich nach dem Motto: »Was ich nicht beachte, kann mir auch nichts anhaben.« Das war ein Trugschluss. In Boadilla del Camino, der nächsten Station nach Hontanas, ging die Schwellung über Nacht zunächst wieder ein wenig zurück. Dafür hatte ich mir die erste Blase an der Ferse des linken Fußes zugezogen. In Carrión de los Condes, dem Ziel meiner nächsten Tagesetappe, nahm ich die Schmerzen mit in meinen Schlaf, am Morgen war die Schwellung im gleichen Umfang vorhanden wie am Abend zuvor. In Terradillos de los Templarios quälten mich schließlich nicht nur das rechte Bein und die offene Blase, sondern meine linke Hüfte machte sich ebenfalls deutlich bemerkbar. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, als wolle mein Hüftknochen aus der Gelenkpfanne herausspringen, um mich zusätzlich zu peinigen. Die
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