Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
Pilger bedeutet es auch, sich von Lasten und Sorgen zu befreien. Der Stein sollte von zu Hause mitgebracht und nicht auf dem Weg gesammelt werden. Ich wollte am nächsten Morgen zwei Steine ablegen, sie waren mit Herzenswünschen und nicht mit Seelenlasten verbunden. Meine Pilgerschaft hatte ich nicht aus dem Motiv dieses Gebetes angetreten. Natürlich hoffe ich, dass ich nach dem Tod das Paradies schauen kann und mich ein Leben nach dem Tod erwartet; aber was sollen denn die Menschen machen, die nie die Gelegenheit bekommen oder die Fähigkeit besitzen, eine Pilgerschaft anzutreten? Wird sich ihre Schale dann auch zugunsten ihrer guten Taten senken oder vielleicht weniger schnell? Ich glaube nicht an derartige Fürsprachen oder besser gesagt an Gebete, die an bestimmte Bedingungen gebunden sind. Vielmehr glaube ich daran, dass alles, was man tut, wofür man steht, aus Überzeugung, aus Liebe, aus Enthusiasmus stattfinden sollte. Dabei mit sich und den Menschen um sich herum friedvoll und achtungsvoll umzugehen, das ist die richtige Grundlage, um ein gutes Leben zu führen.
Ich war auf den Weg gegangen, um näher bei mir zu sein. Herauszufinden, was ich wirklich vom Leben wollte. Er sollte eine Unterbrechung darstellen, eine Zäsur zwischen vorher und nachher sein. Ich hatte den Jakobsweg ausgewählt, weil er ein sehr alter Pilgerweg war, christlich geprägt. Ich wollte Gott nahe sein. Ich erhoffte mir dadurch Stärke, Kraft, Schutz und Klarheit. Wenn ich ehrlich bin, spielte Jakobus dabei für mich keine Rolle, außer der historischen. Er gab den Rahmen, er war das Ziel in Santiago, aber ich war nicht seinetwegen unterwegs. Einiges über seine Person oder die Geschichte des Weges erfuhr ich erst während des Pilgerns. Der heilige Jakobus wurde in den Gesprächen der Pilger untereinander selten thematisiert. Es schien, als ob Jakobus als Pilgermotiv keine große Bedeutung zukam. Es war wohl eher die Mystik des Weges, die die meisten Pilger faszinierte.
Die Albergue Gaucelmo war noch geschlossen, wie mir Elvira und Martin, die auf einem Mäuerchen am Weg saßen, mitteilten.
Ich stellte meinen Rucksack zu den anderen, die bereits in einer Reihe davor standen. Nun hieß es warten. Die zwei weiteren Herbergen hatten schon geöffnet und immer wieder kamen Pilger ohne Gepäck und frisch geduscht an uns vorbei. Dennoch warteten wir geduldig. Seltsamerweise habe ich weder Elvira noch Martin gefragt, warum sie diese Herberge ausgewählt hatten und keine von den anderen, die bereits geöffnet hatten. Vielleicht ging es ihnen wie mir? Die Herberge lag direkt an der Iglesia de la Asunción und dem Kloster San Salvador. Die Gebäude standen irgendwie alle miteinander in Beziehung. Vor dem Eingang der Kirche warf ein großer Kastanienbaum seinen Schatten. Schräg gegenüber dem Eingang des Refugio war ein Schutzpatron als Statue in die Hauswand eingelassen. Für mich war vorher klar gewesen, dass ich hier übernachten wollte und jetzt stellte ich es noch weniger in Frage. Mittlerweile kamen mehr und mehr Pilger auf dem kleinen Vorplatz zusammen. Peter aus Maastricht, mit dem ich unterwegs ein paar Worte gewechselt hatte, sowie ein Pilger, den ich in der Herberge von Hospital de Órbigo bereits gesehen hatte, tauchten hier wieder auf. Letzteren hielt ich für einen Holländer, aber Rien, so sein Name, war Belgier. Sein schlohweißes Haar über einem tiefbraunen Gesicht machte ihn unverwechselbar. Wie immer tummelten sich unter den Pilgern bekannte und unbekannte Menschen. Die Zeit des Wartens verging wie im Flug. Die Gespräche waren kurzweilig und die Straße, gleichzeitig Pilgerweg, bot uns allen genügend Abwechslung. Irgendwann lief ein älteres Ehepaar an uns vorbei, das offensichtlich Rabanal nur durchquerte. Sie hatte an ihrem Rucksack Unterwäsche zum Trocknen befestigt. Diese Trocknungsvariante ist keine unübliche auf dem Camino, aber bei ihr sah es einfach zu komisch aus, denn an einer Leine hingen riesige, blütenweiße Baumwollschlüpfer.
Als wir endlich eingelassen wurden, bekamen wir die Betten zugewiesen. Niemand durfte sich eines aussuchen, sondern nach strengem Lageplan wurden wir den Betten zugeteilt. Ich hatte großes Glück und bekam das obere Bett direkt an einem Fenster mit Blick auf den alten Kastanienbaum. Es waren bestimmt 30 Schlafplätze in dem Raum, die dicht nebeneinander standen und wenig Privatsphäre zuließen. Überwiegend Männer hatten hier Quartier bezogen, das sollte sich in der Nacht
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