Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
erzählten eher verhaltener, zögerlicher. Uns alle einte aber, dass jeder von uns einmal die Erfahrung hatte machen wollen, wie es ist, wochenlang mit den wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken von Herberge zu Herberge zu ziehen und somit einen komplett anderen Alltag zu leben als daheim.
Wir hoben unsere Tafel kurz vor halb zehn auf, weil wir noch in die Pilgermesse wollten, in der auch ein Pilgersegen angekündigt war. Weder Deutschland noch Polen hatten bis dahin ein Tor geschossen. Wieder sangen die Mönche die gregorianischen Gebete, auch der Segen wurde sehr feierlich erteilt, dennoch war ich ein wenig enttäuscht. Ich hatte eine Eucharistiefeier erwartet, doch die Kommunion wurde nicht ausgeteilt. Sie an diesem Tag zu empfangen, wäre wohltuend gewesen. Ich fühlte mich Gott bereits sehr nahe, doch durch die Eucharistie hätte ich das Gefühl gehabt, ihn noch näher bei mir zu haben, ihn zu verinnerlichen. Seit dem Jakobsweg gehe ich bedeutend aufmerksamer und mit Hingabe zur Kommunion. Sie hat wieder eine sehr große Besonderheit für mich. Nicht, dass ich vorher achtlos war, aber wie bei vielen Ritualen verliert man irgendwann Aufmerksamkeit. Bei manchen geht es sogar in eine Art Routine über und das ist sehr schade. Ich hatte im Laufe der Jahre zwar immer wieder das Gebet gesucht, oft in der Kirche auch einen Raum der Stille gefunden, aber die heilige Messe und damit die Eucharistie hatte ich vernachlässigt. Wenn ich ehrlich bin, hatte das sehr viel mit der eigenen Bequemlichkeit zu tun. Sonntagmorgens in den Gottesdienst zu gehen war eben nicht so gemütlich wie im Schlafanzug am Frühstückstisch bei Kaffee, Brötchen und Zeitung den Tag einzuläuten. Heute ist es mir eine große Freude sehr häufig in der kleinen Kapuzinerkirche bei mir ganz in der Nähe die Sonntagsmesse zu besuchen, denn für mich ist die Kommunion wieder das, was sie von Anfang an war, mein tiefstes und innigstes Zwiegespräch mit Gott. Auch findet in der sehr gut frequentierten Gemeinde der Kapuziner ein intensiver, offener, liebevoller und toleranter Dialog mit allen Gläubigen statt. Hier wird christliche Nächstenliebe ohne Bedingungen geschenkt. »Wenn es dir guttut, dann komm«, einer von vielen Aussprüchen des Franz von Assisi, der die Kapuziner leitet.
Ute wollte unbedingt wieder zurück, um die letzten Minuten des Spiels zu sehen. Ich war müde und hatte außerdem geplant, am anderen Morgen sehr früh aufzustehen. Martin, Elvira und ich wollten bereits um fünf die Herberge verlassen, um in der Einsamkeit den Aufstieg zu machen und ohne den Pilgerpulk das Cruz de Ferro zu erreichen.
In der Herberge hatte ich dann leider noch eine Auseinandersetzung mit Rien. Ich hatte das Fenster geöffnet, um die stickige und miefige Luft des Raumes mit Sauerstoff anzureichern. Doch er schloss sofort wieder das Fenster mit der Begründung, es würde ziehen und das würde seinem Nacken nicht guttun. Ich hätte ihn würgen können. Das Fenster war zu mir und meiner Bettnachbarin hin geöffnet und nicht zu ihm. Sie hatte ich um Erlaubnis gebeten, ihn deshalb nicht. Ich blieb diesmal hartnäckig, da eine weitere Nacht in einem durch Menschen aufgeheizten Raum für mich nicht in Frage kam. Wir konnten uns auf einen Kompromiss einigen, vor allem weil die anderen Pilger durch beifällige Bemerkungen auf meiner Seite waren. Selbst als in der Nacht ein sehr heftiges Gewitter mit Blitz und Donner niederging, machte Rien das Fenster nicht zu. Meine Bettnachbarin und ich genossen die frische Brise, die immer wieder mal leicht durch das Fenster hineinwehte.
Kurz bevor ich in ein fernes Traumland entschwebte, flüsterte mir Peter, der mit Ute noch das Deutschlandspiel zu Ende geschaut hatte, zu: »1:0 für Deutschland durch Oliver Neuville.«
24. Pilgertag, 15. Juni 2006
Rabanal del Camino - Molinaseca
Draußen war es noch stockfinster. Wir hatten aus Rücksicht auf unsere Mitpilger die Rucksäcke bereits am Abend in die Bibliothek gestellt, um niemanden so früh aufzuwecken. Ich benutzte zum ersten Mal meine Stirnlampe und war sehr froh, sie zu haben. Elvira und Martin waren ein ganzes Stück hinter mir, da ich früher losgelaufen war. Wir hatten uns zwar verabredet einander zu wecken, aber das schloss nicht das gemeinsame Wandern ein. Vor mir in einiger Entfernung waren die Schemen von zwei anderen Menschen zu erkennen. Ich fühlte mich zusätzlich erleichtert, denn es war nicht so einfach sich zu orientieren. Auch war ich über mich
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