Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
selbst erstaunt, dass ich mich im Dunklen allein auf den Weg gemacht hatte. Zu Hause kostet es mich schon Überwindung, bei Nacht in den Keller hinunterzugehen. Durch das nächtliche Gewitter war die Luft sehr klar, einige Pfützen hörte ich unter meinen Füßen aufspritzen, die Sträucher rechts und links des Weges waren noch voller Regentropfen. Zusehends gewöhnte ich mich an die Dunkelheit und konnte immer mehr erkennen. Irgendwann knipste ich sogar die Stirnlampe aus, um den anbrechenden Morgen intensiver zu erleben. Die Geräusche und Düfte um mich herum waren so viel deutlicher wahrzunehmen. Auch die Gewissheit, Menschen vor mir sowie Elvira und Martin in meinem Rücken zu haben, entspannte mich mehr und mehr. Kurz vor Foncebadón, einem kleinen Weiler, überholten mich die beiden, sie waren schnell unterwegs. Es war jetzt hell, die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich bereits ihren Weg über den Hügelkamm. Es waren zwar immer noch zahlreiche Wolken am Himmel, aber die Sonne zerriss sie immer mehr. Das Wechselspiel von Wolken und aufsteigender Sonne warf unglaubliche Muster an den Himmel. Es dauerte nicht lange und das Cruz de Ferro kam in mein Blickfeld. Über den Baumwipfeln war ein Stück davon zu sehen, ähnlich einer Kirchturmspitze ragte es über die Bäume hinweg. Es spornte mich an, es war wie eine Verheißung. Ich wollte dort hinkommen und lief schneller. Der Abstand zu Elvira und Martin verkürzte sich wieder. Als ich dort ankam, legten sie gerade ihre Steine ab und die Pilger, die ich schemenhaft vor mir gesehen hatte, saßen unter einem Vordach der kleinen Kapelle, die in der Nähe erbaut worden war. Das Kreuz thronte auf einem abgerindeten Baumstamm, der wiederum aus einem Fundament von aufgeschütteten Steinen ragte. Mitten in der Landschaft türmte sich etwas auf, das in seinen Materialien natürlich und dennoch von Menschenhand platziert worden war.
Das Cruz de Ferro
Es wirkte aus einiger Entfernung wie eine archaische Kultstätte. Als ich näher kam und schließlich direkt davor stand, war mein erster Gedanke: »Hier sieht es aus wie auf einer Müllkippe.« Der Stamm war im unteren Drittel mit Zetteln vollgepflastert, überall lagen kaputte Schuhe verteilt, sogar durchlöcherte Shirts waren zu sehen. Halstücher flatterten im Wind, Erinnerungsschleifen waren um Steine gewickelt. Unzählige Nachrichten mit Wünschen und Grußworten steckten zwischen den Steinen in kleinen Sichthüllen oder waren auf die Steine geschrieben worden. Dicht neben dem Stamm steckte eine brasilianische Fahne. Ich hatte den Eindruck, dass es vielen Pilgern nicht reichte, die Steine verbunden mit entsprechenden Gedanken abzulegen, sondern dass regelrecht »Duftmarken« von ihnen gesetzt worden waren. Ich war enttäuscht, der Platz war irgendwie entzaubert. Warum genügte es manchen Menschen nicht, nur die schlichten, einfachen Steine zu platzieren? Denken sie, dass, je mehr sie von sich an dieser Stelle hinterlassen, ihren Wünschen dadurch stärker Nachdruck verliehen ist? Aus meiner Sicht eine irrige Annahme, die Gedanken und Gebete sind doch hier ausschlaggebend! Trotz allem holte ich aus meinem Rucksack meine Steine. Ich wollte sie hierlassen und meine damit verbundenen Wünsche anbringen. Außerdem wäre mein damals siebenjähriger Neffe Justus tief enttäuscht gewesen, wenn ich sie wieder mit nach Hause gebracht hätte. Er hatte mir spontan zwei seiner schönsten Exemplare geschenkt, nachdem ich seine Steinsammlung bewundert und ihm vom Cruz de Ferro erzählt hatte. Ich durfte sie auch dann noch behalten, als er kurz darauf seine großzügige Geste erst richtig realisierte und ich ihm ansehen konnte, wie gerne er augenblicklich die Steine zurückhaben wollte. Ich musste ihm versprechen, ganz fest an ihn zu denken, wenn ich die Steine ablegen würde. Das tat ich nun.
Der erste Stein war mit einem ganz persönlichen Wunsch verbunden: »Ich möchte mein Leben leben, keine anderen Erwartungen erfüllen als meine eigenen, ohne andere zu verletzen oder zu vernachlässigen.« Ich wusste noch nicht, was die Zukunft bringen würde, aber ich wollte meine eigenen Wünsche, Ziele und Bedürfnisse nicht irgendwelchen Erwartungen von außen unterordnen noch dem Erwartungsdruck, dem ich mich selbst aussetzen könnte, erliegen. Es war schon eine klare Aufforderung an mich selbst, nicht wieder irgendwann in vorhandene Denkmuster zurückzufallen. Ich wusste beispielsweise nur zu gut, dass ich sehr schnell mit meiner
Weitere Kostenlose Bücher