Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
deutlich bemerkbar machen. Neben durchdringendem Schnarchen waren im Schlaf Stöhnen und auch »Ablasswinde« zu vernehmen.
Die Herberge war trotz des alten Gemäuers in einem tollen Zustand, alles war sehr sauber und gepflegt. Die englischen Hospitaleros waren überaus freundlich und höflich. Mit ihrem distinguierten Englisch und Auftreten hätte es mich nicht gewundert, wenn sie uns zum Vieruhrtee gebeten hätten. Hinter dem Gebäude lag ein weitläufiger Garten, der natürlich sofort von uns erobert wurde. Peter, Elvira, Martin und ich gaben uns der nachmittäglichen Ruhe hin. Leider setzte irgendwann wieder der Regen ein und ich beschloss, eine Siesta zu halten. Meinem Kopf würde das sicher auch guttun, denn im Garten hatte ich ihn mir an einer alten Türbohle empfindlich gestoßen. Die Beule war dank der schnellen Hilfe von Peter, der mir sofort etwas zum Kühlen besorgt hatte, nicht weiter angeschwollen, aber das Bier mitten am Tag getrunken, tat sein Übriges. Selig schlief ich zwei Stunden tief und fest.
Der Abend hielt eine Überraschung für mich bereit. Nach einem Spaziergang durch das Dörfchen wurde ich von einigen Mitpilgern zu den Hospitaleros geschickt, die mir mitteilten, dass ich in der Messe um 19 Uhr die deutsche Version der Lesung vortragen sollte. In diesem Gottesdienst wird das Abendgebet von den Mönchen des Klosters nach gregorianischer Tradition in Latein gesungen. Die Lesung hingegen halten vier Pilger, die jeweils in ihren Landessprachen Englisch, Spanisch, Französisch und Deutsch die Lesung vortragen. Warum ausgerechnet ich von den deutschen Pilgern ausgewählt worden war, weiß ich nicht, aber ich freute mich sehr, ein Teil des Gottesdienstes zu sein. Wir vier durften dann auch noch vorne im Altarraum bei den Mönchen sitzen. Es war erhebend, in unmittelbarer Nähe den wunderbaren Gesängen der beiden Geistlichen zu lauschen. Als ich an der Reihe war zu lesen, schaute ich in die Gesichter der Pilger und versuchte den Text so zu lesen, dass er in ihnen auf Resonanz stieß. Ich wollte sie berühren, genau, wie ich berührt war. In dieser kleinen Kirche fühlte ich es wieder ganz deutlich. Den Camino zu gehen, bedeutete auf dem Weg zu sich selbst zu sein, und dabei auch Gott ganz nah zu sein. Goethe hat einmal geschrieben, dass »er glaube, dass wir einen Funken jenes ewigen Lichts in uns tragen, das im Grunde des Seins leuchten muss und welches unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können. Diese Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.« Nun wusste ich, warum ich unbedingt in dieses Refugio gewollt hatte. Wäre ich in einer der anderen Herbergen gegangen, hätte ich dieses schöne Erlebnis nicht gehabt.
In der Taverne, in der wir an diesem Abend das Pilgermenue zu uns nahmen, das trotz der wie immer überproportional großen Fleischmenge sehr schmackhaft war, herrschte Fußballfieber. Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland hatte begonnen und lief schon einige Tage. Ich hatte bisher nichts mitbekommen, doch nun wurde ich mittels der Bilder, die ein riesiger Fernseher über der Bar lieferte, daran erinnert. In der Taverne herrschte Ausnahmezustand. Spanien spielte gegen die Ukraine und führte zur Halbzeit bereits 2:0, entsprechend ausgelassen war die Stimmung. Ukrainer oder Russen waren augenscheinlich nicht in der Kneipe, denn alle, nicht nur die Spanier, waren im Freudentaumel. Die Spanier gewannen schließlich mit 4:0, leider gab es deshalb aber keine Lokalrunde. Wie ich dann erfuhr, wurde im Anschluss das Spiel zwischen Deutschland und Polen übertragen. Es war schon komisch, zu Hause hätte ich kein einziges Spiel verpasst und mitgefiebert, entsprechend gelitten oder gejubelt. Es interessierte mich hier auf meiner Reise einfach nicht, auch an diesem Abend fand ich es spannender, mich mit meinen Tischgefährten zu unterhalten. Eleonore, einer Frau, die ich mittags in der Warteschlange kennen gelernt hatte, der kleinen Ute und Bernhard ging es genauso wie mir. Außerdem bekamen wir sowieso automatisch alles mit, das Stöhnen, Murren, Jubeln, Seufzen, auf die Schulter klopfen, das Kommentieren der überwiegend männlichen Fans war nicht zu übersehen und zu überhören. Die Atmosphäre in der Taverne war dicht und emotionsgeladen. Währenddessen tauschten wir uns über die Motive aus, die uns auf den Pilgerweg hatten gehen lassen. Erfahrungsgemäß gingen manche damit offener und freier um, andere
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