Karrieresprung
mehr zu ihr fand.
Es war ein Zufallsbefund. Er hatte nicht gesucht und nicht vermisst. Er hatte den Verlust nebenbei bemerkt, zunächst in einer der Gewissheit nahen Erwartung, dass sich alles wieder finden werde, bis er nichts fand. Der Abend lag bleiern auf seiner Suche, während er mit ihr redete und insgeheim in Bildern blätterte. Seine Lieblosigkeit entsetzte und beschämte ihn. Er hörte ihr aufmerksam zu und dankte für ihr Zuhören. Ihm war, als benutze er sie. Reuig fühlte er sich in sie ein und liebkoste sie mit seinem frühen Bild von ihr. Andenkengleich ruhte es behütet in ihm, in hellen Farben die Leichtigkeit ihres Zusammenkommens beleuchtend, und er widmete diesem Bild seine schuldig bleibende Liebe, während er rastlos sein Gehirn quälte, damit es die Gründe des Verlusts preisgebe.
Doch er fand keine Gründe. Schuldbeladen wurde er fürsorglicher. Der Wunsch seiner Frau war ihm Befehl. Er verwöhnte sie gegen seine bohrenden Fragen. Gemeinsam tranken sie am Abend des heimlichen Verlustes eine Flasche Wein. Alles, was er sagte, jede noch so belanglose Bemerkung, verlangte nach Zutritt zu einer sich entfernenden Welt. Die zarte Erinnerung wucherte zu einer potemkinschen Kulisse, zu deren trister Rückseite hin er sich gestoßen fühlte. Es gab keine Briefe von ihr, die er zunächst verliebt überflogen und dann gierig ein zweites und ein drittes Mal gelesen hätte, um sich ihretwegen bei lauter Musik mit Sekt zu betrinken und dem Impuls zu ergeben, sie allen zu zeigen, nachdem er in stolzer Heimlichkeit sie glückselig unter seinem Kopfkissen versteckt hatte.
Es gab auch nicht solche Briefe von ihm.
Im Herbst des vorletzten Jahres, etwa drei Monate vor ihrer Heirat, war er mit Lisa für einige Tage nach Brügge gefahren. Nahe der Altstadt fanden sie im Hotel Montovani Quartier und nahmen von dort zu Fuß ihren Weg über die Hoefijzerlaan, verließen die belebte Hauptstraße am ’t Zand und tauchten über die Noordzandstraat zwischen den alten Handelshäusern in das Stadtzentrum ein, besichtigten die Liebfrauenkirche, das Groeningemuseum, das Rathaus und den Beginenhof, die Basilika vom heiligen Blut und das Gruuthusemuseum und kreuzten mit einem kleinen Boot durch die Altstadtkanäle. Doch am Ende fanden sie immer wieder zum Marktplatz zurück. Dort verweilten sie in den noch geöffneten Straßenrestaurants, die vom mächtigen Hallenturm und dem neogotischen Verwaltungsgebäude der Provinzregierung sowie den Zunfthäusern umsäumt waren. Sie lauschten dem Echo der Pferdehufe, das von den Kutschpferden auf den widerhallenden Pflastersteinen kam, die ihre Rundfahrten hier begannen und beendeten. Morgens beim Kaffee und mittags bei einem Salat saßen sie hier und kehrten am späten Nachmittag nochmals auf den Platz zurück, nachdem sie sich im Montovani schnell mit wärmerer Kleidung versorgt hatten. Dann ließen sie im stillen Genuss die Nacht über den Platz einbrechen, verfolgten, wie den Kutschen rot leuchtende Schlusslampen aufgesetzt und die Pferde noch immer zu neuen Fahrten angetrieben wurden. Es waren Stunden wohliger Gemeinsamkeit, die sie schweigend hier verbrachten.
Am Samstagabend, als die letzten Sonnenstrahlen den Platz verlassen hatten, die Pflastersteine noch die Reste der gespeicherten Wärme abgaben, die sie im herbstlich milchigen Sonnenlicht des Tages aufnehmen konnten, mild die kühle Abendluft einzog, der Atem der keuchenden Pferde dampfte und der Hallenturm in das goldgelbe Licht unsichtbar montierter Scheinwerfer getaucht und der Platz noch lebendiger als tagsüber und dennoch viel geborgener war, hatten sie sich verlobt. Er hatte die leisen Worte gewagt, sie bebend fast verschluckt, bevor er bangend wieder auf den Platz sah, auf dem erwachsen werdende Jungen ihre Motorräder aufheulen ließen. Lisa hatte sich verlegen durchs Haar gestrichen, gezaudert, dann seine Hand genommen und fest gedrückt, bis sich das Motorengeheul in den abgehenden Gassen verloren und der Platz seine geschäftige Geborgenheit zurückerobert hatte. Ihr ›Ja‹ war leise und doch fest. Sie waren an einem Ziel angekommen.
Der Moment brannte sich in ihm ein. Er gehörte zum Album seines Glücks.
14
Der Prozesstermin in der Sache Weinstein gegen Rosenboom fand Mitte August statt. Knobel hatte seinen Mandanten bereits vor dem Dortmunder Landgericht getroffen. Gemeinsam strebten sie durch die Säulenhalle über eine breite steinerne Treppe in die erste Etage, von dort in den Altbau mit seinen
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