Kartiks Schicksal
der Welt zu sein?«, frage ich leise.
Verhaltene Trauer klingt in der Stimme der Medusa. »Ich bin die Letzte meiner Art.«
Schrilles Gelächter weht von der Burg wie aus einer anderen Welt herüber. Hinter dem wässrigen blauen Himmel des Niemandslands grollt ferner Donner in den dunkelgrauen Wolken der Winterwelt.
»Diese Geschichte hast du mir nie genau erzählt«, erinnere ich sie.
Sie holt tief Luft. »Bist du sicher, dass du sie hören willst?«
»Ja«, antworte ich.
»Dann setz dich zu mir und ich werde sie dir erzählen.«
Ich gehorche und lasse mich neben ihrem riesigen grünen Gesicht nieder.
»Es war vor vielen Generationen«, sagt sie und schließt kurz die Augen. »Alle fürchteten sich vor den dunklen Geistern der Winterwelt und dem Unheil, das sie brachten. Und als die Macht des Ordens zu wachsen begann, hießen wir ihn willkommen. Der Orden führte die Völker zusammen und eine Zeit lang ging alles gut. Die Völker gediehen, die Gärten blühten; Menschen in eurer Welt wurden beeinflusst, es wurde Geschichte gemacht. Doch immer noch trieben die Geister der Winterwelt ihr Unwesen und zogen mehr und mehr Seelen auf ihre Seite. Der Orden trachtete danach, dieser Bedrohung durch stärkere Kontrolle Einhalt zu gebieten.
Zuerst handelte es sich um kleine Beschränkungen. Gewisse Freiheiten wurden verweigert, zu unserem Besten, wie es hieß. Unsere eigenen Zauberkräfte verkümmerten, weil wir keinen Gebrauch davon machten. Und der Orden wurde immer mächtiger. Macht verändert alles, bis sich kaum noch sagen lässt, wer die Guten und wer die Bösen sind. Denn Magie an sich ist weder gut noch böse; die Absicht macht den Unterschied.«
Die Burg summt von Musik und Gelächter.
»Die Unzufriedenheit griff um sich«, fährt die Medusa nach einer Pause fort. »Es kam zu einer Rebellion, während der jedes Volk ohne Rücksichtnahme für seine eigenen Interessen gekämpft hat. Am Ende trug der Orden der Priesterinnen den Sieg davon, aber nicht ohne einen Preis zu verlangen. Sie erlaubten den Völkern des Magischen Reichs nicht mehr, die Magie für sich selbst zu nutzen. Diejenigen von uns, die sich in eurer Welt befanden, saßen dort fest. Und mein Volk …« Sie verstummt, die Augen vor Schmerz fest geschlossen. Lange Minuten verstreichen, in denen nur die Musik zu hören ist, die von der Burg hierher weht.
»Dein Volk wurde vernichtet«, sage ich, weil ich das Schweigen nicht länger ertrage.
Die Medusa blickt nicht auf. »Nein«, sagt sie und ihre Stimme klingt trauriger, als ich sie jemals gehört habe. »Einige überlebten.«
»Aber … wo sind sie? Wo sind sie geblieben?«
Die Medusa senkt ihr großes Haupt und die Schlangen hängen wie die Äste einer Trauerweide herab. »Der Orden wollte an mir ein Exempel statuieren.«
»Ja, ich weiß. Und so hat er dich in dem Schiff eingesperrt und dich dazu verurteilt, ihnen immer die Wahrheit zu sagen.«
»Richtig. Aber das war später, zur Buße für meine Sünde.«
Ein Bleigewicht beschwert meinen Magen und zieht ihn nach unten. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die Geschichte jetzt wirklich hören will.
»Ich war zu jener Zeit eine große Kriegerin. Eine Anführerin meines Volkes. Und stolz.« Sie spuckt das Wort aus. »Ich wollte uns vor einem Sklavendasein bewahren. Wir waren ein kriegerischer Stamm und den Tod zu wählen war für uns eine Sache der Ehre. Dennoch unterwarf sich mein Volk den Bedingungen der Priesterinnen. Das widersprach unserem Ehrenkodex. Ich schämte mich für die feige Entscheidung und erklärte meine Wut zum Recht.« Sie lehnt den Kopf zurück, als suche ihr Gesicht eine Sonne, die nicht da ist.
»Was ist geschehen?«
Ruhelos ringeln und winden sich ihre Schlangenhaare im Schlaf. »Während der Orden schlief, benutzte ich die gleichen Zauberformeln, die ich gegen so viele meiner Feinde angewendet hatte. Ich versetzte meine Untertanen in Trance. Ich verwandelte sie unter meinem Blick in Steine und nacheinander fielen sie durch mein Schwert. Ich tötete sie alle ohne Gnade. Sogar die Kinder.
Mein Verbrechen wurde entdeckt. Da ich die letzte der Medusen war, wollten mich die Zauberinnen nicht zum Tode verurteilen. Stattdessen banden sie mich an das Schiff. So habe ich schließlich meine Freiheit, mein Volk und meine Hoffnung verloren.« Die Medusa öffnet ihre gelben Augen und ich drehe meinen Kopf weg, weil ich mich davor fürchte, in ihr Gesicht zu sehen, nun, da ich die Wahrheit kenne.
»Aber du hast dich
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