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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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und sie gebeten, mich zu holen.«
    Ich denke an den Nachmittag in London zurück, als Ann vorgesungen und vorgesprochen hat, und an den Brief in ihren Händen, den sie mit so großen Bedenken abgeschickt hat. Sie hatte nie die Absicht, sich Lily Trimble und Mr Katz anzuschließen. Ich sinke auf ihr Bett; ihr Koffer zwischen uns. Sie räumt ihn wieder ein und lässt die Schlösser zuschnappen.
    »Dann sag mir, wofür das alles gut war?«, frage ich.
    »Es tut mir leid, Gemma.« Sie will meinen Arm berühren, aber ich ziehe ihn weg. »Wenn ich jetzt fortgehe, kann ich den Tag so in Erinnerung behalten, wie er war. Ich kann immer glauben, dass ich es hätte schaffen können. Aber wenn ich diese Chance ergreife – wenn ich als ich selbst hingehe und versage … Das könnte ich nicht ertragen.«
    Felicity stürzt zur Tür herein und blockiert sie. »Keine Angst, Ann. Ich lasse es nicht zu, dass sie dich mitnehmen.«
    Ann zerrt an ihren Handschuhen und packt den Griff ihres Koffers. »Geh zur Seite, bitte.«
    Felicity will protestieren. »Aber …«
    »Lass sie gehen, Fee.« Ich möchte Ann einen Tritt versetzen – dafür, dass sie es nicht versucht. Dafür, dass sie sich selbst aufgibt und uns.
    Anns Gesicht nimmt eine gut eingeübte Maske an, die kein Gefühl erkennen lässt. Mit diesem Talent könnte sie auf den Bühnen der Welt rauschende Erfolge feiern. Stattdessen will sie es dazu benutzen, sich nahtlos in das Leben ihrer Verwandten einzufügen, als hätte es sie überhaupt nie gegeben. Und ich erkenne jetzt, dass sie eine ebenso gute Magierin wie Schauspielerin hätte werden können, weil sie es versteht, sich selbst verschwinden zu lassen.
    Mit dem Koffer in der Hand marschiert Ann zum letzten Mal die Treppe hinunter. Ihre Schultern sind gestrafft und ihr Rücken gerade, aber ihre Augen sind ausdruckslos. Sie hat sogar schon den Gang einer Gouvernante angenommen.
    Mrs Wharton wartet mit Mrs Nightwing und Brigid am Fuß der Treppe. Mrs Wharton trägt ein übertrieben perlenbesticktes und gefiedertes Kleid. »Ah, da ist ja unsere Annie. Soeben habe ich Mrs Nightwing gesagt, wie begeistert du von unserem Haus auf dem Land sein wirst. Mr Wharton und ich haben ihm den Namen Balmoral Spring gegeben, nach dem königlichen Sommersitz Ihrer Majestät in Schottland.«
    Sie schwatzt weiter über die Mühsal, ein Landgut stilgerecht zu führen, und wie nervenaufreibend es ist, ständig hinter den Dienstboten her sein zu müssen. Brigid reicht Ann ein Taschentuch, obwohl sie selbst eines benötigen würde.
    »Dienen ist keine Schande«, sagt sie und streichelt zärtlich Anns Kinn. »Denken Sie an Ihre alte Brigid.«
    »Leb wohl, Ann«, sagt Felicity. »Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein.«
    Ann dreht sich zu mir. Ich weiß, dass sie auf ein Zeichen der Zuwendung wartet – einen Kuss, eine Umarmung, wenigstens ein Lächeln. Aber ich kann mich zu keinem davon durchringen.
    »Du wirst eine prima Gouvernante abgeben.« Meine Worte sind eine Ohrfeige.
    »Ich weiß«, antwortet sie und gibt sich damit selbst noch eine Ohrfeige.
    Die Mädchen strömen in die Eingangshalle. Sie schniefen und machen so viel Aufhebens wie noch nie, solange Ann hier war und es ihr vielleicht geholfen hätte. Ich ertrage es nicht, darum stehle ich mich fort in den Marmorsaal. Hinter den Vorhängen verborgen beobachte ich, wie Ann und ihre plötzlichen Bewunderinnen nach draußen gehen.
    Ein Kutscher verstaut Anns Koffer, dann hilft er Mrs Wharton und schließlich Ann in den Wagen. Sie streckt den Kopf aus dem Fenster, mit der Hand ihren einzigen guten Hut festhaltend. Ich könnte hinausstürzen, ihr einen Kuss auf die Wange drücken, sie mit einem herzlichen »Mach’s gut!« auf den Weg schicken. Ich könnte. Es würde ihr mehr als alles bedeuten. Aber ich kann meine Füße nicht bewegen. Sag einfach nur Lebewohl, wie es sich gehört, Gemma. Das ist alles.
    Die Zügel werden angezogen. Die Pferde wirbeln Staub auf. Die Kutsche schwankt, als sie umdreht und die Auffahrt hinunter zur Straße fährt. Sie wird kleiner und kleiner, bis sie nur noch ein dunkler, sich entfernender Fleck ist.
    »Leb wohl«, flüstere ich schließlich, als es nicht mehr von Bedeutung ist und niemand es hört außer dem Fenster.

36. Kapitel
    Abwesenheit ist eine merkwürdige Sache. Wenn Freunde nicht mehr da sind, scheint die Lücke, die sie hinterlassen, immer größer zu werden, bis nur noch die Leere fühlbar ist. Nun, wo Ann uns verlassen hat, ist das Zimmer zu

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