Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
Vom Netzwerk:
groß. Was immer ich auch versuche, ich kann den vorhandenen Raum nicht ausfüllen. Ich stelle fest, dass ich Anns Schnarchen vermisse, das mir so lästig war; ich vermisse ihren schwermütigen Charakter, ihre albernen, romantischen Ideen und ihre Vorliebe fürs Makabere. Wie oft im Laufe des Tages denke ich, das muss ich gleich Ann erzählen: kleine alltägliche Dinge, eine treffende Bemerkung über Cecily oder eine Beschwerde über den Porridge – beide gleich unerträglich –, nur um festzustellen, dass Ann nicht da ist, um sich darüber zu amüsieren. Dann überkommt mich ein Moment tiefer Traurigkeit, die ich nur überwinden kann, indem ich meinem Zorn freien Lauf lasse.
    Sie selbst hat beschlossen, uns zu verlassen, sage ich mir, während ich die Nadel durch meine Stickerei ziehe, Hymnen singe und meinen Hofknicks für die Königin übe. Aber wenn sie selbst schuld ist, warum nehme ich es mir so zu Herzen? Warum habe ich das Gefühl, für ihre Entscheidung mitverantwortlich zu sein?
    Ich bin froh, dass Miss McChennmine uns zu sportlicher Betätigung nach draußen ruft. Einige Mädchen spielen Rasentennis. Ein paar Unerschrockene wagen sich ans Fechten, unter Anleitung von Felicity, der eine wilde Verwegenheit aus den Augen leuchtet. Eine kleine Gruppe macht sich für Kricket stark, »wie an den Colleges für die Jungen!«, aber da wir weder Kricketschläger noch Kricketbälle haben, erübrigt sich die Debatte und murrend beginnen sie ein Krocketspiel.
    Ich bin für Hockey. Über das Spielfeld zu rennen, den Stock schlagbereit, mit dem gebogenen Ende den Ball zu treffen, diesen erfolgreich einer Mannschaftskameradin zuzuspielen, hemmungslos zu brüllen, dabei immer den Wind im Gesicht und die Sonne auf dem Rücken zu spüren, weckt die Lebensgeister. Ein bisschen Hockey wird mir guttun. Ich stelle fest, dass ich gerne mit einem Stock gegen etwas schlagen möchte.
    Miss McChennmine ruft uns vom Rasen aus schonungslos zu: »So werden Sie es nie schaffen! Nicht so eigensinnig, Miss Temple, geben Sie Ihrer Kameradin eine Vorlage … Lassen Sie den Ball nicht aus den Augen! Sie müssen zusammenarbeiten, meine Damen, auf ein gemeinsames Ziel hin! Denken Sie daran: Grazie, Charme, Schönheit!«
    Das kann sie den anderen sagen, aber nicht mir, ich habe genug davon. Ich habe Ann eine Vorlage gegeben, sie hat sie nicht genutzt. Als der Ball wieder im Spiel ist, rennen Cecily und ich gleichzeitig auf ihn zu. Mein blöder Rock verwickelt sich ein wenig an meinen Beinen – was gäbe ich jetzt nicht für die Freiheit von Hosen! – und Cecily nützt den Vorteil. Aber ich gebe nicht auf. Ich will den Ball haben. Noch wichtiger, ich will nicht, dass sie ihn hat, sonst wird sie eine Woche lang damit angeben.
    »Mein Ball!«, rufe ich.
    »Nein, nein – ich habe ihn!«, schreit sie.
    Unsere Schläger prallen aufeinander. Ein Mädchen aus der gegnerischen Mannschaft, ein pummeliges Ding mit rötlichem Haar, ergreift die Chance. Sie fährt mit ihrem Schläger zwischen uns, schnappt sich den Ball und rennt auf das Tor zu.
    »Ich habe dir gesagt, ich habe ihn, Gemma Doyle«, sagt Cecily mit einem gezwungenen Lächeln.
    »Offensichtlich hattest du ihn nicht«, erwidere ich mit einem ebenso falschen Lächeln.
    »Es war mein Ball.«
    »Du irrst dich!«, beharre ich.
    Miss McChennmine marschiert aufs Spielfeld und trennt uns. »Meine Damen! Was Sie hier an den Tag legen, ist schwerlich als Sportsgeist zu bezeichnen. Genug jetzt, oder ich werde Ihnen beiden Punkte für schlechtes Betragen geben.«
    Mit grimmiger Entschlossenheit raffe ich mich wieder auf. Ich möchte Cecily – möchte ihnen allen – zeigen, wozu ich fähig bin. Kaum habe ich das gedacht, als die Magie in mir in Schwung kommt und ich nichts mehr sehe außer dem Ball. Mit kühnem Mut, furchtlos wie Richard Löwenherz, stürme ich voran.
    Doch Cecily ist schnell. Sie ist ganz nahe am Ball. »Ich habe …« Ich renne mit voller Wucht gegen sie an, werfe sie nieder. Sie liegt hingestreckt im Gras und fängt an zu jammern. Miss McChennmine ist im Handumdrehen da.
    »M-Miss M-McChennmine!«, plärrt Cecily. »Sie hat mich absichtlich umgerannt!«
    »Das habe ich nicht!«, protestiere ich, aber meine roten Wangen strafen mich Lügen.
    »Doch, hast du!«, wimmert Cecily.
    »Du bist kindisch.« Ich schiebe ihr die Schuld wieder zu.
    »Das reicht jetzt. Miss Temple, es gehört zum Sportsgeist, einstecken zu können.« Cecily klappt den Mund auf und ich grinse hämisch. »Und

Weitere Kostenlose Bücher