Kartiks Schicksal
Sie, Miss Doyle, sind viel zu hitzig, wie mir scheint. Kühlen Sie Ihr Temperament abseits des Spielfelds, bitte.«
»Aber ich …«
»Ihre Rücksichtslosigkeit könnte noch mehr Schaden anrichten, Miss Doyle«, sagt Miss McChennmine und ich weiß, dass sie nicht nur von dem Spiel spricht.
Meine Wangen glühen. Die anderen Mädchen kichern. »Ich bin nicht rücksichtslos.«
»Ich will nichts mehr hören. Verlassen Sie das Feld, bis Sie Ihre Beherrschung wiedergewonnen haben.«
Gekränkt und wütend gehe ich an den feixenden Schülerinnen und grinsenden Arbeitern vorbei geradewegs auf die Schule zu und es ist mir herzlich egal, dass ich jeden Sportsgeist vermissen lasse.
Verdammte McChennmine. Wenn sie wüsste, was ich weiß – dass Eugenia Spence in der Winterwelt lebt und mir mehr vertraut als ihr –, dann würde sie vielleicht anders mit mir reden. Richtig, ich habe wichtigere Dinge zu tun. Ich krieche in Felicitys Zelt, wo ich unser Exemplar der Geschichte der Geheimbünde gelassen habe. Schließlich lümmle ich mich auf die Polsterbank im Marmorsaal und setze die Lektüre des Buches fort, in der Hoffnung, einen Hinweis auf das Versteck des Dolchs zu finden. Seufzend mache ich mich zum x-ten Mal daran, Seite für Seite zu durchkämmen, obwohl 502 Seiten viel zu viel sind. Ich hasse Autoren, die so dicke Bücher schreiben.
Nach der Titelseite kommt ein Gedicht. »Die Rose der Schlacht« von Mr William Butler Yeats.
»Rose aller Rosen, Rose der ganzen Welt!
Nun bist auch du an jenen Strand bestellt,
Wo trübe Flut den Kai der Sorgen überspült, und hörest bang Die Glocke, die uns ruft; den süßen, fernen Klang.«
Es scheint ein schönes Gedicht zu sein, soweit ich es beurteilen kann, denn ich bekomme davon keine Zahnschmerzen. Und ich beschließe, dieses Gedicht auf unserem Maskenball vorzutragen.
Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine der Illustrationen, die das Buch schmücken. Ich muss ein halbes Dutzend Mal einen Blick darauf geworfen haben, ohne sie wirklich wahrzunehmen – eine einfache Tuschezeichnung eines Zimmers mit einem Tisch und einer einsamen Lampe, an der Wand ein Bild von Booten. Mit wachsendem Interesse stelle ich fest, dass es dem Zimmer gleicht, das ich in meinen Visionen gesehen habe. Könnte es dasselbe sein? Und wenn ja, wo befindet es sich? Hier in Spence? Und könnte es dasjenige sein, wo Wilhelmina den Dolch an sich genommen hat? Ich fahre mit dem Finger über die Bildunterschrift: Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden.
Rasch durchblättere ich das Buch auf der Suche nach weiteren Illustrationen. Ich stoße wieder auf den Turm und frage mich, ob es der Ostflügelturm sein könnte, so wie er einst war. Ein paar Seiten weiter ist eine Zeichnung eines schielenden Wasserspeiers, unter der steht: Wächter der Nacht. Ein anderes Bild zeigt einen fröhlichen Zauberer – Dr. Van Ripple zum Verwechseln ähnlich –, der ein Ei in eine Schachtel legt, und auf der nächsten Seite sieht man, dass das Ei verschwunden ist. Der Titel lautet: Das verborgene Objekt.
Die Zeichnungen haben nichts mit dem Text zu tun, soviel ich sehe. Es ist, als seien sie vollkommen eigenständig, eine Art Entschlüsselungscode. Aber wofür? Für wen?
Miss McChennmine kommt herein. Sie schäumt vor Wut. »Miss Doyle, ich dulde keinen so erschreckenden Mangel an Disziplin und Sportsgeist. Wenn Sie keine Lust haben, sich an dem Spiel zu beteiligen, können Sie sich an den Rand des Spielfelds setzen und Ihre Schulfreundinnen anfeuern.«
»Sie sind nicht meine Freundinnen«, sage ich und blättere um.
»Sie könnten es sein, wenn Sie nicht so verzweifelt in die Vorstellung verliebt wären, mutterseelenallein auf der Welt zu sein.«
Es ist jammerschade, dass Miss McChennmine nicht unter die Scharfschützen gegangen ist, denn sie trifft todsicher ins Schwarze.
»Das Spiel hat mich gelangweilt«, lüge ich.
»Nein, die Regeln haben Sie gelangweilt. Das scheint Ihnen zur Gewohnheit geworden zu sein.«
Ich blättere wieder eine Seite um.
Miss McChennmine tritt näher. »Was lesen Sie da, das so fesselnd ist, dass Sie es nicht für nötig halten, mich anzusehen?«
»Eine Geschichte der Geheimbünde von Wilhelmina Wyatt.« Ich starre sie an. »Kennen Sie es?«
Ihr Gesicht wird eine Spur blasser. »Nein. Nicht dass ich wüsste.«
»Und dennoch haben Sie zu Weihnachten ein Exemplar davon in der Buchhandlung Die Goldene Dämmerung gekauft.«
»Haben Sie mir nachspioniert, Miss Doyle?«
»Warum nicht?
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