Kartiks Schicksal
Ruß.«
»Ja«, sage ich beklommen. Er sieht müde aus. Ungesund. Und plötzlich habe ich den sehnlichen Wunsch, ganz nah bei ihm zu sein, neben ihm zu sitzen wie ein Kind und mir von ihm über den Kopf streichen zu lassen.
»Du sagst, Simon Middleton hat sich nichts zuschulden kommen lassen?«, dringt Vater in mich.
»Nein, nichts«, sage ich und meine es ehrlich.
»Dann ist’s ja gut.« Vater nickt. Er wendet sich wieder seiner Sucherei zu und ich weiß, dass ich entlassen bin.
»Vater, sollen wir eine Partie Schach spielen?«
Er durchstöbert Papiere und schaut hinter Bücher. »Ich habe jetzt keinen Kopf für Schach. Warum fragst du nicht deine Großmutter, ob sie einen Spaziergang machen will?«
»Ich könnte dir helfen, wenn ich weiß, wonach du suchst. Ich könnte …«
Er winkt ab. »Nein, Kleines. Ich brauche meine Ruhe.«
»Aber ich fahre morgen«, klage ich. »Und dann ist meine Saison. Und dann …«
»Wir wollen doch jetzt keine Tränen vergießen, oder?«, tadelt Vater. Er zieht eine Schublade heraus und ich sehe die braune Flasche darin liegen. Ich weiß sofort, dass es Laudanum ist. Mein Herz wird schwer.
Ich nehme Vaters Hand und fühle seine Traurigkeit in mich eindringen. »Wir wollen doch davon loskommen, nicht?«, sage ich laut.
Bevor Vater antworten kann, träufle ich ihm ein Glücksgefühl ein wie ein Opiat, bis sich seine zerfurchte Stirn glättet und er lächelt.
»Ah, da ist es ja, was ich gesucht habe. Gemma, Kleines, würdest du das bitte in den Müll werfen?«, sagt er.
Tränen brennen in meinen Augen. »Ja, Vater. Natürlich. Sofort.«
Ich küsse ihn auf die Wange und er schlingt seine Arme um mich und zum allerersten Mal lasse ich vor ihm los.
Beim Abendessen ist Tom wie ein werdender Vater, dem die Nerven durchgehen. Während der ganzen Mahlzeit zuckt sein Bein und einmal tritt er mich zufällig.
»Könntest du bitte stillhalten?«, frage ich und reibe mein Schienbein.
Vater schaut von seinem Teller auf. »Thomas, was ist los?«
Mein Bruder stochert in seinem Essen herum, ohne einen Bissen zu sich zu nehmen. »Ich hätte heute Abend in meinen Herrenklub gehen sollen, aber ich habe nichts von ihnen gehört.«
»Kein Wort?«, frage ich und lasse mir meinen Sieg zusammen mit den Kartoffeln auf der Zunge zergehen.
»Es ist, als existiere ich nicht mehr«, murrt Tom.
»Gekränkt sein ist nicht sehr sportlich«, sagt Vater zwischen zwei Bissen von seiner Wachtel und ich bin froh, ihn essen zu sehen.
»Ja, man muss Haltung bewahren«, predigt Großmama.
»Vielleicht solltest du heute Abend zur Hippokrates-Gesellschaft gehen«, schlage ich vor. »Du weißt, dass du immer noch eine Einladung hast, dort beizutreten.«
»Eine ausgezeichnete Idee«, sagt Vater beifällig.
Tom schiebt die Erbsen an den Rand seines Tellers. »Vielleicht werde ich das tun«, sagt er. »Und sei’s nur, um ein wenig herauszukommen.«
Ich bin so beglückt über diese Nachricht, dass ich zum Nachtisch zwei Stück Kuchen verdrücke. Großmama schimpft und meint, wenn ich meinen Appetit nicht zügeln könne, werde die Näherin wieder gebraucht. Doch ich lache und stecke sie damit an und bald lachen wir alle, während die Dienstboten uns ansehen, als hätten wir plötzlich den Verstand verloren. Aber es macht mir nichts aus. Ich habe, was ich will. Ich habe es und ich werde es mir nicht wegnehmen lassen. Weder von Lord Denby noch von jemand anders.
41. Kapitel
Dr. Van Ripples Visitenkarte weist eine Adresse in einem heruntergekommenen Viertel aus, das an einen durchgesessenen Sessel erinnert, der aufgepolstert gehört. Die Reihenhäuser sind nicht besonders einladend. Sie haben keinen weiteren Ehrgeiz, als ihren Mietern ein Dach über dem Kopf zu bieten.
»Reizend«, sagt Felicity, als wir eine enge, schlecht beleuchtete Straße entlanggehen.
»Ich hab dich aus deinem Käfig befreit, oder nicht?«, sage ich. Kinder laufen an uns vorbei. Sie spielen im Dunkeln, ihre Mütter sind wohl zu erschöpft, um sich um sie zu kümmern.
»Nun, meine Mutter glaubt immer noch, dass ich am Klavier sitze. Das war ein eindrucksvoller Trick, Gemma. Sag mal, haben deine Zauberkräfte Dr. Van Ripples Quartier schon aufgespürt?«
»Dafür brauchen wir nur unsere Augen und unseren Orientierungssinn«, antworte ich.
Wir gehen an einem Gasthaus vorbei, aus dem arbeitendes Volk auf die Straße strömt. Einige sind vom Alter gebeugt, andere können nicht älter als elf oder zwölf sein. Mütter wiegen Babys an
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