Kartiks Schicksal
Bankreihen hin und her, bis meine Suche endlich Erfolg hat. Ein plötzlicher Windstoß schlägt die Tür zu und ich lasse das Gesangbuch, das ich in der Mitte eines Pults entdeckt habe, fallen. Ich höre, wie es unter die Bank rutscht.
Verdammt.
Mein Herz klopft zum Zerspringen, als ich mich jetzt bücke und nach dem Buch taste, bis ich es habe. Eine Stimme, so durchdringend wie das Kratzen eines Fingernagels auf Metall, tönt aus der Dunkelheit.
»Bleib …«
Ich wirble so rasch herum, dass die Flamme in der Lampe flackert. »Wer ist da?«
Die Kapelle ist still, abgesehen vom Wind, der an der nun geschlossenen Tür rüttelt. Ich packe das Gesangbuch und renne schwer atmend durch den Gang.
»Du sollst nicht gehen …«
Ich wirble um die eigene Achse. Meine Lampe wirft zornige Schatten an die Wände. »Ich weiß, dass du da bist. Zeig dich!«
»Der Wald ist nicht mehr sicher.«
Die Figuren der farbigen Glasfenster bewegen sich. Sie sind lebendig.
»Wir wollen dich beschützen, Auserwählte …«
Die Stimme kommt von der seltsamen Glasscheibe, die einen Engel in voller Rüstung zeigt, der in einer Hand ein blutiges Schwert schwingt und in der anderen ein abgeschlagenes Medusenhaupt. Wenigstens habe ich die Gestalt immer für einen Engel gehalten; jetzt, in der zunehmenden Dunkelheit, bin ich mir keiner Sache mehr sicher. Der Engel wächst in seinem gläsernen Gefängnis. Sein Körper beugt sich aus dem Fenster und sein Gesicht schimmert wie der Mond.
»Sie sind im Wald …«
»Du bist nicht wirklich«, sage ich laut. Von dem Medusenhaupt tropft Blut auf den Fußboden der Kapelle. Ich höre es mit einem ekelerregenden Geräusch aufkommen wie Regen. Galle steigt in meiner Kehle hoch. Ich atme durch die Nase und würge die bittere Flüssigkeit hinunter.
»Wenn du in der Winterwelt geopfert wirst, geht die Magie auf sie über und alles ist verloren. Verlass die Kapelle nicht!«
Es ist zu spät. Ich lasse das Gesangbuch und die Laterne zurück und stürze zum Ausgang. Ich werfe mich gegen die Tür und sie fliegt auf. Das Heer der Nacht hat seinen Rachefeldzug angetreten. Ich kann kaum den Weg sehen und ich verfluche mich, dass ich die Lampe nicht mitgenommen habe. Das Gebell der Hunde ist noch nicht verstummt.
Ohne richtig auf den Weg zu achten, renne ich, so schnell ich kann. Ein Ast schlägt mir ins Gesicht und ich blicke mich um. Ich ringe nach Atem. In den Bäumen bewegt sich etwas. Zwei Männer kommen hinter einer großen Fichte hervor und ich schreie. Es dauert einen Moment, bis ich sie erkenne – Tambley und Johnny, die beiden vermissten Arbeiter.
»Sie haben mich zu Tode erschreckt«, sprudle ich hervor. Mein Herz schlägt so schnell wie das eines Kaninchens.
»Tut uns leid, Miss«, sagt Johnny mit ruhiger Stimme.
»Wir wollten Ihnen nichts tun«, fügt der junge Tambley hinzu. Irgendetwas ist seltsam an ihnen. Sie scheinen so substanzlos wie Staub, zwei Erscheinungen, und als sie nach vorn in einen Mondstrahl treten, könnte ich schwören, dass ich unter ihrer Haut Knochen leuchten sehe.
»Sie haben uns alle einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sage ich und weiche zurück. »Es hat geheißen, Sie sind verschwunden.«
»Verschwunden?«, wiederholt Johnny offenbar verständnislos.
Die Bäume zittern von Flügelgeflatter. Mehrere Raben hocken auf den Ästen und beäugen uns stumm. Eine drängende innere Stimme flüstert mir zu: Versteck dich, Gemma.
»Sie sollten sich sofort bei Mr Miller melden. Er macht sich Sorgen um Sie.«
Meine Hand sucht Halt an einem Baumstamm. Rechts von mir höre ich einen Laut. Meine Augen wenden sich dem Geräusch zu und da ist Johnny. Eine Sekunde zuvor war er vor mir. Wie konnte er plötzlich …
Tambley zeigt mit einem Finger auf mich. Sein Skelett schimmert unter der Oberfläche seiner Haut, so bleich wie ein Fisch auf dem Grund eines Teiches.
»Jetzt sind wir wieder da«, sagt er. »Um Sie zu holen.«
Die Vögel erheben ein ohrenbetäubendes, durch Mark und Bein dringendes Gekrächze. Johnnys Hand fasst nach meinem Cape. Ich schlüpfe heraus, sodass er nur das Cape erwischt. Ich verschwende keine Zeit. Ich mache auf dem Absatz kehrt und rase zurück auf dem Weg, den ich soeben gekommen bin, denn sie versperren mir den Weg nach Spence. Der Wind erhebt sich hinter mir und bringt kichernde und wispernde Geräusche mit, das Kratzen von Rattenpfoten und das Flattern von Flügeln. Das Gekrächz der Raben ist wie das Gekreisch der Hölle. Wenn mich nicht alles
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