Kartiks Schicksal
ich.
»Könnten Sie bitte nachsehen, ob sie Ithal in ihrem Lager haben?«, sagt Kartik. »Er wird immer noch vermisst.«
»Vermisst? Seit wann? Warum wurde ich davon nicht unterrichtet?«, fragt der Inspektor.
Ein harter Zug tritt um Kartiks Mund. »Niemand schert sich um einen vermissten Zigeuner.«
»Unsinn!«, knurrt der Inspektor. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Ich werde im Lager der Bauarbeiter das Unterste zuoberst kehren, wenn es nötig ist. Mr Miller muss mir für vieles Rede und Antwort stehen, das steht fest.«
Mrs Nightwing und Inspektor Kent geleiten uns durch den Wald. Es scheint nicht mehr derselbe Ort zu sein, den wir gekannt haben, wo wir herumgetollt und durch den wir gewandert sind. Es ist, als hause jemand anderes darin.
»Mrs Nightwing war krank vor Sorge. Sie hätte Ihnen nie erlaubt, zur Kapelle zu gehen, wenn sie damit gerechnet hätte, dass auch nur die geringste Gefahr bestand«, erklärt mir Miss McChennmine, aber ich höre ihr nicht zu. Ich traue keiner von ihnen.
Der Mond schaut für einen Moment hinter den Wolken hervor und beleuchtet das Dach von Spence. Ich verlangsame meine Schritte. Irgendetwas ist seltsam daran, obwohl ich es nicht genau benennen kann. Ich sehe die Türmchen, die Backsteine, die Verzierungen, die Wasserspeier. Ein riesiger dunkler Umriss von Flügeln breitet sich vor dem Licht des Mondes aus. Das steinerne Ungetüm erhebt sich zu voller Größe.
Es bewegt sich.
»Miss Doyle?« Miss McChennmine blickt von mir zum Dach des Gebäudes und wieder zurück. »Ist irgendetwas?«
Sie könnten Ihre Sinne täuschen. Es wird sein, als seien Sie verrückt geworden. Eugenia hat mich davor gewarnt, oder nicht?
»Nein, es ist nichts«, antworte ich, aber meine Hände zittern und jetzt höre ich in meinem Kopf Neelas Stimme: Wie willst du kämpfen, wenn du nicht einmal sehen kannst?
49. Kapitel
»Wie fühlst du dich heute, Gemma?«, fragt Ann. Sie sitzt fertig angezogen, samt Handschuhen und in ihrem besten Kleid am Rand ihres Bettes. Es ist eines von Felicitys aussortierten und von Brigid an den Seiten ausgelassenen Kleidern. Ann kann ihre Aufregung nicht verbergen.
»Müde«, sage ich und reibe meinen schmerzenden Kopf. »Warum bist du so fein angezogen?«
»Heute ist der Tag«, sagt sie. »Erinnerst du dich nicht? Charlie Smalls? Das Gaiety? Zwischen zwölf und fünfzehn Uhr?«
»Oh nein!«, sage ich. Nach allem, was geschehen ist, habe ich diesen Termin völlig vergessen.
»Aber wir fahren doch, nicht wahr?«, fragt sie.
Eigentlich würde ich die Magie heute lieber nicht bemühen, nicht nach letzter Nacht. Nicht in meinem geschwächten Zustand. Aber es geht um Ann. Sie ist meine Freundin. Sie will ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ich möchte glauben, dass sie es diesmal ernst meint. Aber dazu wird sie meine Hilfe brauchen – und ich ihre.
Ich schlage die Bettdecke zurück. »Geh und hol Felicity. Das werden wir mit vereinten Kräften in Angriff nehmen müssen.«
*
Gemeinsam entwerfen wir unseren Plan. Wir richten unsere Anstrengungen auf Brigid. Wir lassen sie glauben, dass Ann und ich unter unserem monatlichen Fluch leiden und nicht gestört werden dürfen. Brigid wird den ganzen Nachmittag von nichts anderem reden, denn ich habe ihr die Geschichte fest in den Kopf gesetzt. Und Felicity schmückt die Sache weiter aus, bis jeder in Spence sich hüten wird, in die Nähe unserer Tür zu kommen. Aber das alles braucht seine Zeit, und bis wir schließlich in London aus dem Zug steigen und eine Droschke nach Piccadilly gefunden haben, sind wir eine volle Stunde zu spät. Atemlos stürzen wir zum Theater, aber als wir ankommen, verlässt Charlie Smalls gerade in Begleitung eines zweiten Mannes das Haus. »Oh nein«, japst Ann. »Was soll ich jetzt tun?«
Für eine Sekunde bin ich versucht, die Zeit zu manipulieren, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen und alles zu regeln, aber ich besinne mich eines Besseren. Das hier ist Anns Auftritt. Sie soll selbst handeln.
»Tu, was du tun musst«, sage ich.
»Mr Smalls!«, ruft sie laut.
Charlie Smalls wendet uns seinen Blick zu. Er schaut von Ann zu mir und schließlich taucht in seinen Augen ein Schimmer des Erkennens auf. »Miss Washbrads Schulkollegin, wenn ich nicht irre?«
»Ja, richtig«, sage ich. »Und das ist meine Freundin, Miss Bradshaw.«
Die Männer tippen sich höflich an den Hut. »Was ist bloß mit Miss Washbrad passiert? Mr Katz und Miss Trimble haben auf sie gewartet, aber sie ist
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