Kartiks Schicksal
erreichen.
»Gemma.« Ich drehe mich um und sehe Circe hinter mir. Sie hat ihre fahle Blässe abgelegt. Sie sieht ganz so aus wie damals, als ich sie zum ersten Mal in Spence gesehen habe, als sie Miss Moore war, die Lehrerin, die ich liebte. »Sie haben es gut gemacht«, sagt sie.
»Sie wussten, dass Eugenia der Baum geworden war, nicht wahr?«, sage ich.
»Ja«, antwortet sie.
»Und Sie wollten mich retten?«, frage ich hoffnungsvoll.
Sie schenkt mir ein reumütiges Lächeln. »Geben Sie sich keinen Illusionen über mich hin, Gemma. Als Erstes wollte ich mich selbst retten. Als Zweites wollte ich die Magie. Sie kamen als Drittes unter ›ferner liefen‹.«
»Aber ich kam als Drittes«, sage ich.
»Ja«, sagt sie mit einem kleinen Lachen. »Sie kamen als Drittes.«
»Danke«, sage ich. »Sie haben mich gerettet.«
»Nein. Sie haben sich selbst gerettet. Ich habe nur ein bisschen nachgeholfen.«
»Was wird jetzt aus Ihnen?«, frage ich.
Sie antwortet nicht.
»Sie wird nun für alle Zeit in diesem Nebel umherwandern«, erklärt mir die Alte.
Die Entscheidung liegt hier vor mir in ihrer Hand. Die Rufe meiner Freunde verhallen im Nebel. Ich nehme eine pralle Beere und lege sie auf meine Zunge, um sie zu kosten. Sie hat eine angenehme Süße, aber sonst nichts. Es ist der Geschmack von Vergessen. Von Schlafen und Träumen ohne Erwachen. Wunschlos, ohne noch einmal etwas zu begehren, um etwas zu kämpfen oder jemanden zu verletzen, ohne je wieder zu lieben oder Sehnsucht zu empfinden. Und ich verstehe, dass das bedeutet, wahrhaftig seine Seele zu verlieren.
Mein Mund wird taub vor Süßigkeit. Die Beere liegt auf meiner Zunge.
Felicity mit Goldruten in den Armen. Anns Stimme, kräftig und sicher. Die Medusa, die über das Schlachtfeld marschiert.
Ich brauche nur die Beere zu schlucken und Schluss. Das ist alles. Die Beere hinunterschlucken und mit ihr alle Mühen, alle Sorge, alle Hoffnung. Wie leicht wäre das.
Kartik. Ich habe ihn bei dem Baum zurückgelassen. Der Baum. Ich sollte dort irgendetwas tun.
So leicht, so leicht …
Kartik.
Mit einer ungeheuren Anstrengung spucke ich die Beere aus. Ich bekomme einen Brechreiz, als ich versuche, den schalen zuckrigen Belag auf meiner Zunge loszuwerden. Mein Körper schmerzt, als hätte ich einen schweren Stein endlos bergauf gerollt, von dem ich jetzt befreit bin.
»Es tut mir leid. Ich kann nicht mit euch mitkommen. Nicht jetzt. Aber wenn es mir erlaubt ist, dann habe ich eine Bitte.«
»Wenn du es wünschst«, sagt die Alte.
»Ja. Ich möchte meinen Platz einer anderen überlassen«, sage ich und schaue dabei zu Circe.
»Sie wollen ihn mir geben?«, fragt sie.
»Sie haben mir das Leben gerettet. Das muss doch etwas wert sein«, sage ich.
»Sie wissen, dass ich Selbstaufopferung verachte«, erwidert sie.
»Ich weiß, aber ich will nicht, dass Sie ewig im Nebel umherwandern. Das ist zu gefährlich.«
Sie lächelt mich an. »Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht, Gemma.« Sie wendet sich den Dreien zu. »Ich akzeptiere.«
Circe steigt in die Barke.
Die Alte nickt mir zu. »Du hast deine Wahl getroffen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Was auch geschehen mag, du musst es annehmen.«
»Ja, ich weiß.«
»Dann viel Glück. Wir werden einander nicht mehr begegnen.«
Ich setze meinen Fuß auf das schlammige, von Nebel umhüllte Ufer. Die Alte stakt das Boot in den Fluss hinaus, die Drei entschwinden im Dunst und Circe mit ihnen. Ich bewege mich langsam, bis meine Beine sich erinnern, dass sie laufen können. Und dann renne ich, renne mit all meiner Kraft, stürme mit weit ausgreifenden, entschlossenen Schritten durch den Nebel, bis ich das Gefühl habe zu fliegen. Ich spüre harte Zweige, die auf meinen Rücken schlagen, fühle einen brennenden Schmerz in meiner Hüfte. Ich presse eine Hand darauf, und als ich die Hand wegnehme, trieft sie von Blut.
Ich bin wieder dort, wo ich vorher war, auf dem gefrorenen Boden der Winterwelt.
»Kartik! Kartik!« Meine Stimme ist heiser und schwach. Das bisschen Magie, das ich noch habe, verebbt.
»Gemmai«, ruft er in höchstem Alarm. »Beweg dich nicht! Wenn dein Blut auf den Boden der Winterwelt fällt …«
»Ich weiß.« Mit Mühe stecke ich den Dolch in seine Hülle und weiche Schritt um Schritt zurück, indem ich versuche, dem Wurzelgewirr des Baumes auszuweichen. Ich bedecke die Wunde mit meiner Hand. Blut sickert darunter hervor. Der Baum schwankt bedenklich. Die dunklen Geister der Winterwelt
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