Kartiks Schicksal
zurück. »Ist es das, wofür ihr bereit seid zu kämpfen? Zu töten? Jetzt ist Schluss damit«, sage ich. Meine Lippen sind noch warm von Kartiks Kuss. »Die Magie war dazu ausersehen, geteilt zu werden. Keiner von euch wird sie besitzen! Ich werde die Magie an das Land zurückgeben!«
Ich lege meine Hände auf die verwüstete Erde. »Ich gebe die Magie an das Magische Reich zurück und auch an die Winterwelt, damit sie redlich unter den Völkern geteilt werde!«
Die Todesschergen kreischen und heulen wie vor Schmerz. Die Seelen, die sie gefangen hatten, fluten durch mich hindurch auf ihrem Weg ins Jenseits. Es ist ein komisches Gefühl. Als die Todesschergen verschwunden sind, gibt es niemanden mehr, der die Zurückgebliebenen, die Toten, führen könnte. Sie starren verwundert, ohne recht zu wissen, was geschehen ist oder was sein wird.
Die bleichen Dinger, die in den Ritzen und Spalten der Winterwelt hausen, kriechen näher. Die Wärme des Baumes taut um seinen Fuß einen kleinen Fleck Eis auf. Dünne Grashalme kämpfen sich durch die neue Erde. Ich berühre sie und sie sind so sanft wie Kartiks Finger an meinem Arm.
In mir bricht etwas auf. Ich sinke ins sprießende Gras und lasse meinen Tränen freien Lauf.
5. A KT M ORGEN
Du musst die Veränderung sein,
die du auf der Welt sehen willst.
Mahatma Gandhi
70. Kapitel
Mrs Nightwing wartet in der Kapelle auf uns, wo der Leichnam von Mutter Elena aufgebahrt ist.
»Die dunklen Geister?«, fragt Ann. Ihre Stimme ist heiser vom vielen Schreien.
Mrs Nightwing schüttelt den Kopf. »Das Herz. Sie ist ihnen nicht in die Hände gefallen. Wenigstens das ist ihr erspart geblieben.«
Mrs Nightwing zählt uns, als wir an der Toten vorüberziehen – Felicity, Ann, Fowlson, ich.
»Sahirah …?«, flüstert sie. »Und …«
Ich schüttle den Kopf. Sie senkt die Augen und es wird nichts weiter gesagt.
Die Mädchen von Spence sitzen dicht aneinandergedrängt. Ihre Augen sind groß und erschrocken. Was sie heute Nacht gesehen haben, ist jenseits von Teegesellschaften und Bällen, Knicksen und Sonetten.
Mrs Nightwing legt mir ihre Hand auf die Schulter. »Es gibt nichts, womit ich sie trösten könnte. Sie haben gesehen und sie sind von Furcht und Schrecken erfüllt.«
»Das sollten sie auch sein.« Ist das meine Stimme, die so hart klingt?
»Sie können nicht verstehen, was geschehen ist.«
Sie möchte, dass ich alle Magie, die mir geblieben ist, zusammenkratze und jeden Funken Erinnerung an diesen Abend aus dem Gedächtnis der Mädchen lösche. Sie vergessen lasse, damit sie weiterleben können wie bisher.
Es ist ein Luxus, dieses Vergessen. Zu mir wird niemand kommen, um mir die Dinge wegzuzaubern, von denen ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen. Ich werde mit ihnen leben müssen.
Ich schüttle ihre Hand ab. »Warum sollte ich?«
*
Ich tue es trotzdem. Sobald ich sicher bin, dass die Mädchen schlafen, schleiche ich in ihre Zimmer, eins nach dem anderen, und lege meine Hände auf ihre gefurchten Stirnen, hinter denen der ganze Schrecken des Geschauten liegt. Ich beobachte, wie sie sich unter meinen Fingern entspannen. Wenn die Mädchen aufwachen, werden sie sich an einen seltsamen Traum von Magie und Blut und merkwürdigen Wesen erinnern und vielleicht an eine Lehrerin, die sie gekannt haben und deren Namen ihnen nicht einfallen will. Vielleicht grübeln sie einen Moment darüber nach, aber dann werden sie sich sagen, es war nur ein Traum, den man am besten vergisst.
Ich habe getan, was Mrs Nightwing von mir gewollt hat. Aber ich nehme ihnen nicht alle Erinnerungen fort. Ich hinterlasse ihnen ein kleines Andenken an diesen Abend: Zweifel. Ein Gefühl, dass es vielleicht noch etwas anderes im Leben gibt. Es ist nur ein kleines Samenkorn. Ob es heranwachsen wird, kann ich nicht sagen.
Als ich schließlich bei Brigid angelangt bin, finde ich sie wach in ihrem kleinen Zimmer. »Mach dir keine Mühe, Schätzchen. Es kommt aufs Gleiche raus, ob ich vergesse oder nicht.« An ihrem Fenster sind keine Ebereschenblätter mehr.
*
In Indien gibt es ein altes Sprichwort. Es besagt, dass man zuerst seine Tränen vergießen muss, ehe man klar sehen kann.
Ich weine tagelang.
Mrs Nightwing zwingt mich nicht hinunterzugehen und sie erlaubt niemandem, nicht einmal Felicity und Ann, mich zu besuchen. Sie bringt mir Mahlzeiten auf einem Tablett, stellt es auf meinen Tisch im verdunkelten Zimmer und geht wortlos wieder hinaus. Manchmal, wenn ich in den frühen
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