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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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viele Stimmen, die mich bedrängen.
    »… Ich werde heute Abend meinen Antrag machen und der glücklichste Mann auf Erden sein …«
    »… mein armes kleines Baby begraben, und keiner weiß, dass auch ich innerlich sterbe …«
    »… ein neues Kleid mit einem passenden Hut …«
    Bitte hört auf. Ich kann nicht. Ich kann nicht atmen. Ich …
    Alles um mich herum verlangsamt sich zu einem Schneckentempo. Neben mir schwebt Großmamas Fuß mitten im Schritt über der Straße. Am Bordstein dreht ein Leierkastenmann mit quälender Langsamkeit die Kurbel seines Instruments. Jeder Ton braucht eine Ewigkeit und begleitet vom langsamen Schlag der Glocken Big Bens klingt die Melodie wie ein Trauermarsch.
    »Großmama?«, sage ich, aber sie kann mich nicht hören.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich eine rasche Bewegung. Die Frau im lavendelfarbenen Kleid kommt auf mich zu; ihre Augen funkeln vor Zorn. Sie packt meine Hand so fest, dass meine Haut unter ihrem groben Griff brennt.
    »W-was wollen Sie?«, frage ich.
    Sie zieht den Ärmel ihres Kleids herauf, um ihren Arm zu entblößen. Worte erscheinen wie von selbst auf ihrer Haut: Warum ignorieren Sie mich?
    Der kalte metallische Geschmack der Angst liegt auf meiner Zunge. »Ich ignoriere Sie nicht, aber ich verstehe nicht, was …«
    Sie zerrt mich energisch auf die Straße.
    »Warten Sie!« Ich wehre mich. »Wohin bringen Sie mich?«
    Sie legt ihre Hände auf meine Augen und ich werde mit ihr in eine Vision hineingezogen. Es geht rasend schnell, zu schnell. Die Rampenlichter der Bühne des Varietétheaters. Der Illusionist. Die Frau, die auf die Schiefertafel schreibt: Der Baum Aller Seelen lebt. Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden. Eine Frau in einem Teegeschäft. Sie dreht den Kopf und lächelt. Miss McChennmine.
    Ich höre den raschen Hufschlag galoppierender Pferde auf Pflastersteinen näher kommen. Die Frau aus der Vision reißt den Kopf hoch und blickt wild um sich. Eine schwarze Kutsche gezogen von vier glänzenden Pferden bricht aus der Londoner Düsternis hervor und stiebt die Straße herunter. Schwarze Vorhänge flattern aus den Fenstern.
    »Halt!«, rufe ich, aber die Pferde werden immer schneller. Die Kutsche ist fast bei uns. Gleich werden wir niedergetrampelt.
    »Lassen Sie mich los!«, schreie ich und die Frau löst sich in Blätter auf und verweht. Die Kutsche fährt durch mich hindurch, als sei ich Luft, und verschwindet im Nebel. Die Welt schnellt in die Normalität zurück und ich stehe mitten auf der Straße, zwischen Lieferwagen und zweirädrigen Droschken, die versuchen, um mich herum zu manövrieren. Ein Kutscher ruft mir ungehalten zu, ich solle von der Fahrbahn verschwinden.
    Großmama blickt erschrocken hoch. »Gemma Doyle! Was fällt dir ein?«
    Ich taumle auf sie zu. »Hast du das nicht gesehen?«, keuche ich. »Eine Kutsche ist aus dem Nichts aufgetaucht und genauso schnell wieder verschwunden.«
    Großmamas Schreck kämpft mit der Magie in ihrem Innern. »Jetzt müssen wir auf unsere Süßigkeiten verzichten.« Sie verzieht den Mund.
    »Ich sage dir, ich hab sie gesehen«, murmle ich. Ich schaue weiter nach einem Zeichen von der Kutsche und der Frau aus. Sie sind nirgends zu entdecken und ich kann nicht beschwören, dass ich sie tatsächlich gesehen habe. Aber in einem bin ich mir sicher: Ich habe Miss McChennmine in der Vision gesehen. Wer immer die Frau in dem lavendelfarbenen Kleid ist, sie kannte meine Lehrerin.
    *
    Vater errettet mich aus der Verbannung in mein Zimmer, indem er mich bittet, ihm in dem kleinen Arbeitszimmer im zweiten Stock Gesellschaft zu leisten. Der Raum ist vollgestopft mit seinen Büchern und Papieren, seinen Landkarten von fernen Orten, die er auf seinen verschiedenen Reisen besucht hat. Nur drei Fotografien stehen auf seinem Schreibtisch – ein kleines Bild von meiner Mutter an ihrem Hochzeitstag, eine von Thomas und mir als Kinder und ein grobkörniges Foto von Vater und einem Inder beim Kampieren während einer Jagdexpedition, auf der beide mit ernsten und entschlossenen Gesichtern in die Kamera blicken.
    Vater schaut von seinem Vogelbeobachtungs-Tagebuch auf, in das er einen neuen Eintrag gemacht hat. Seine Finger sind mit Tinte befleckt. »Was höre ich da von Kutschern, die blindlings durch die Straßen von London rasen?«
    »Großmama konnte es also nicht erwarten, die Neuigkeit zu verbreiten«, sage ich mürrisch.
    »Sie war ziemlich besorgt um dich.«
    Soll ich es ihm erzählen? Was würde er sagen? »Ich

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