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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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Bengalischer Tiger spaziere völlig unbekümmert durch die Dörfer. Der dreiste Kerl hatte einen Markt in Delhi verwüstet und dort ein ganzes Regiment in Angst und Schrecken versetzt. Für seine Gefangennahme wurde eine Belohnung von hundert Pfund Sterling ausgesetzt. Nicht im Traum hätten wir gedacht, dass der Tiger zu uns gelangen könnte.«
    Alle hängen an Vaters Lippen und er sonnt sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. »Eines Tages, während Sarita sich ihrer Wäsche widmete, spielte Gemma im Garten. Das heißt, sie war ein Ritter mit einem aus Holz gebastelten Schwert. Sie war äußerst furchterregend, doch ich ahnte nicht, wie furchterregend. Als ich in meinem Arbeitszimmer saß, hörte ich von draußen Geschrei. Ich lief hinaus, um zu sehen, was der Grund der Aufregung war. Sarita rief mir mit vor Angst weit aufgerissenen Augen zu: ›Oh, Mr Doyle, sehen Sie – dort drüben!‹ Der Tiger hatte den Garten betreten und bewegte sich auf Gemma zu, die mit ihrem hölzernen Schwert herumtollte. Neben mir zog unser Hausbursche Raj sein Messer. Aber Sarita hielt seine Hand fest. ›Wenn du mit deinem Messer auf ihn zuläufst, reizt du den Tiger‹, warnte sie ihn. ›Wir müssen warten.‹«
    Am Tisch ist es mucksmäuschenstill. Die Gäste sind von Vaters Geschichte gefesselt und Vater genießt diese Wirkung in vollen Zügen. Den charmanten Erzähler zu spielen, das ist, was er am allerbesten kann.
    »Ich muss Ihnen sagen, das war der längste Moment meines Lebens. Niemand wagte sich zu rühren. Niemand wagte zu atmen. Und die ganze Zeit spielte Gemma ahnungslos weiter, bis die große Katze bei ihr war. Gemma stand dem Tiger Auge in Auge gegenüber. Sie starrten einander an, als fragte sich jeder von ihnen, was er von dem anderen halten solle, so als fühlten sie eine Art Geistesverwandtschaft. Schließlich legte Gemma ihr Schwert auf den Boden. ›Lieber Tiger‹, sagte sie. ›Wenn du friedlich bist, darfst du passieren.‹ Der Tiger schaute auf das Schwert und zurück zu Gemma und ohne einen Laut marschierte er weiter und verschwand im Dschungel.«
    Die Gäste atmen erleichtert auf. Sie gratulieren meinem Vater zu seiner wunderbar erzählten Geschichte. In diesem Moment bin ich unglaublich stolz auf ihn.
    »Und was war mit Ihrer Gattin, Mr Doyle? Sicher hat sie das Geschrei auch gehört?«, fragt eine der Damen.
    Ein leichter Schatten fällt auf das Gesicht meines Vaters. »Glücklicherweise war meine Frau gerade auf der Armenstation des Krankenhauses, wie so oft.«
    »Sie muss eine fromme und gute Seele gewesen sein«, sagt die Frau gerührt.
    »Allerdings. Niemand konnte auch nur ein schlechtes Wort über Mrs Doyle sagen. Alle Herzen wurden weich, sobald ihr Name fiel. Sie wurde in jedem Haus mit offenen Armen empfangen. Ihr Ruf war über jeden Tadel erhaben.«
    »Wie glücklich Sie sind, solch eine Mutter gehabt zu haben«, sagt eine Dame zu meiner Rechten.
    »Ja«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Sehr glücklich.«
    »Sie hat sich um die Kranken gekümmert«, erklärt mein Vater. »Die Cholera war nämlich ausgebrochen. ›Mr Doyle‹, sagte sie, ›ich kann nicht mit den Händen im Schoß dasitzen, während sie leiden. Ich muss zu ihnen.‹ Jeden Tag ist sie hingegangen, mit ihrem Gebetbuch in der Hand. Sie las ihnen vor, tupfte ihnen die fiebrige Stirn, bis sie selbst erkrankte.«
    Es hört sich an wie eine von seinen gut erzählten, vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragenen Geschichten. Doch hiervon ist kein Wort wahr. Meine Mutter war vieles: einerseits stark, andererseits eitel; auf der einen Seite konnte sie liebevoll, auf der anderen grausam und unbarmherzig sein. Aber sie war nicht diese Idealgestalt – eine aufopfernde Heilige, die sich fraglos und klaglos um ihre Familie sowie um die Kranken kümmerte. Ich schaue zu Vater, ob ihn irgendetwas verrät, doch nein, er glaubt es selbst, jedes Wort. Er hat sich diesen Glauben selbst eingeimpft.
    »Was für ein edler und selbstloser Mensch«, sagt die Frau mit dem Stirnreif und tätschelt Großmamas Hand. »Der Inbegriff einer Frau.«
    »Niemand konnte auch nur ein unfreundliches Wort über meine Mutter sagen«, redet Tom seinem Vater nach dem Mund.
    Vergiss deinen Schmerz. Das habe ich gestern im Salon gesagt, als ich Vaters Hand nahm, und das habe ich heute Nacht wiederholt. Aber das hier wollte ich nicht. Ich muss vorsichtiger sein. Aber nicht die Stärke der Magie ist es, die mir Sorgen macht, oder dass sie alle, ohne

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